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Folksong: Eine neue Weise, „nein" zu sagen..

von Brigitte Bilitza

Die Stimme eines Mädchens hat den Ostermarsch 1966 populärer gemacht als die wohlabgewogenen Reden und Plakate von eintausend Pfarrern, Gewerkschaftern und studentischen Marschierern. Der Auftritt von Joan Baez (1941 als Tochter eines Physiklehrers und Enkelin eines mexikanischen Methodistenpfarrers auf Staten Island, New York, geboren) in der Blumengroßmarkthalle zu Frankfurt war für viele Mit-Marschierer und für noch viel mehr Folklore-Freunde das politisch-ästhetische Ereignis der Saison.

Über die Baez ist schon viel geschrieben worden. Ihre Langspielplatten rotieren auf zahlreichen häuslichen Plattentellern. Sie gilt als eine der Wie-derbelebungs-Helferinnen des internationalen Volksliedes. Zusammen mit Bob Dylan (alias Robert Zimmermann, der seinen Künstlernamen als Reverenz vor dem in jeder Hinsicht schwierigen irischen Dichter Dylan Thomas [1914—1953] angenommen hat) repräsentiert sie eine neue Generation politischer Sängerinnen und Sänger, die das Volkslied nicht als Ausdruck eigenen Herzeleids und Liebeskummers verwenden, sondern als eine neue Weise, zu gesellschaftlich-politischen Tatbeständen protestierend „nein" zu sagen. Schon in ihrer Kindheit hat die Beaz gern gesungen. Als sie zur Oberschule ging, kaufte sie sich ihre erste Gitarre. Als sie in Boston Theaterwissenschaft studierte, trat sie zum erstenmal in Cafe-Häusern am Harvard Square auf und gewann dort ihre ersten Anhänger. 1959 wurde sie mit einem Schlage bekannt, als sie auf dem alljährlichen Newport-Festival des internationalen Volksliedes auftrat.

Joan Baez ist ein politisches Mädchen. Von ihren Steuern behält sie einen sorgfältig errechneten Anteil, der dem Anteil der Kosten des Vietnam-Krieges am Gesamthaushalt der Vereinigten Staaten entspricht, ein. Wo immer junge Amerikaner gegen Armut, Rassen-Diskriminierung, die Atombombe und soziale Ungerechtigkeiten demonstrieren, ist sie (unentgeltlich) mit ihrer Gitarre dabei. Ich habe sie zum erstenmal in der New Yorker Carnegie Hall gesehen, während eines Mammut-„sing ins" gegen die offizielle amerikanische Politik in Vietnam. „Eine Bitte habe ich an die jungen Leute hier im Saal", sagte sie, ehe sie Bob Dylans Protest-Lied („How many years can some people exist, before they're allowed to be free?") sang, „bitte, arbeiten Sie nicht mit unseren Musterungsbehörden zusammen l" Joan Baez lebt jetzt — wenn sie nicht gerade irgendwo Protestlieder singt — in Kalifornien. Bei Carmel, der weinreichsten Gegend an der Westküste, hat sie sich ein Haus gekauft und lebt mit Katzen, Hunden und jungen Leuten aus aller Welt zusammen. Neben ihrem Haus unterhält sie eine Privatschule, in der man auf Sechswochen-Kursen die Technik des gewaltlosen Widerstandes lernen kann. Mit dieser Schule hatte sie zunächst eine Menge Ärger. Ihre Nachbarn hatten offensichtlich Angst, daß durch die „kommunistischen" Aktivitäten des „Institutes for the Study of Nonviolence" die Grundstückspreise sinken und ihre Kinder zudem „unmoralischen" Einflüssen ausgesetzt sein würden. „Jedermann spricht hier von seinen 40 000-Dollar-Häu-sern, die an Wert verlieren könnten, wenn ich diese Schule unterhalte", sagte die Baez in ihrer bescheidenen Art, als der Fall vor dem Regional-Gericht verhandelt wurde, „ich möchte dazu eine Bemerkung machen. Ich habe in Carmel Volley mehr als 100000 Dollar investiert und ich möchte natürlich auch, daß mein Eigentum beschützt wird." Mit diesem, typisch amerikanischen Argument hatte sie den Streitfall für sich entschieden. Trotz ihres starken politischen Engagements singt Joan Baez nicht nur politische Lieder. Neben dem Anti-Atombombenlied „Was haben sie mit dem Regen gemacht" von Malvina Reynolds und der Bob-Dylan-lronie „With God on our side" gehören viele unpolitische alte Volkslieder zu ihrem Repertoire, aus dem mir „Lonesome Road", „Kumbaya" und „Barbara Allan" besonders deutlich in Erinnerung sind.

Unterhalb der Popularität von 3oan Baez und Bob Dylan gibt es — und darüber macht man sich in Deutschland kaum eine Vorstellung — Dutzende von ausgezeichneten jungen Protestsängern, die alle schon Langspielplatten produziert und eine Gemeinde um sich geschart haben. Zu ihnen gehören Theodore Bickel und Phil Ochs, den ich persönlich am liebsten habe. Er ist eine Mischung aus Wolf Biermann und Ernst Busch — rasiermesserscharf wenn es sein muß, aber auch humorvoll oder ironisch, wenn es das Thema erfordert. Ochs war Student der Publizistik-Wissenschaft und Mitarbeiter an verschiedenen Studentenzeitschriften, ehe er sich ganz dem politischen Lied verschrieb. „All the news that's fit to sing" heißt eine seiner ersten LPs (ELEKTRA EKL 269) in Abwandlung des Slogans der NEW YORK TIMES („All the news that's fit to print"), der von einem Vorfahren des Sängers Ochs im Jahre 1896 populär gemacht worden war. Eine andere LP heißt programmatisch „l aint marchin' any more" („Ich werd' nicht mehr marschieren") und enthält zwei meiner Lieblingslieder — die noble Würdigung Präsident Kennedys („That was the President") und der bitterböse Angriff auf die Rassendiskriminierung in Mississippi („Ein Hoch auf den Staat Mississippi"). Häufig wird Phil Ochs, der wie viele andere Volkssänger herumläuft, als habe er dringend einen Haarschnitt nötig, von „Andersdenkenden" gefragt, ob er wirklich an die Dinge glaubte, die er singt. Ochs hat auf diese Frage eine sehr eindrucksvolle Antwort gegeben. ,Je länger ich schreibe und je länger ich singe", sagte er, „um so länger wird die Liste der öffentlichen Anschuldigungen. ,lch wette, Sie gehen nicht in die Kirche', sagen sie; und: ,Seien Sie doch nicht so negativ', und: ,Was Sie singen, ist gut, aber Sie gehen nicht weit genug'; und ,Das hat doch nichts mit Volksmusik zu tun'; und ,Warum gehen Sie nicht gleich nach Rußland?' Und ich denke an die zahllosen politischen Versammlungen, als Ich vom Lastwagen in die vertrauten Gesichter frustierter Radikaler blickte, und ich denke an den gesichtslosen Angehörigen der Amerikanischen Legion, der mich in Ohio am Kragen packte und schrie: ,Und was hältst Du von Korea, Bursche?' Und wenn die Leute mich fragen, ob ich wirklich an die Dinge glaube, die ich singe, dann antworte ich ,Zum Teufel, nein, aber ich verdiene doch mein Geld damit!' Denn was sonst sollte ich auf eine solche Frage antworten?" Die Anhänger der Baez und des Phil Ochs, des Bob Dylan und des Tom Paxton, der Malvina Reynolds und des Schirmherrn der Folklore-Bewegung, Pete Seeger, spielen heute in den Vereinigten Staaten auch zahlenmäßig eine nicht zu unterschätzende Rolle. In New Yorks Künstler-, Gammler- und Touristen-Viertel Greenwich Village bin ich ihnen zum erstenmal begegnet, in der großen Rotunde des Washington Square an der 4. Straße von Manhattan treffen sie sich regelmäßig jeden Sonntag zwischen 3 und 6 und singen ihre Lieder und reden ihre politischen Reden. In den zahllosen Kellerkneipen der Bleeker Street habe ich sie wiedergesehen, in der Krypta der katholischen Studentenkirche der Columbia-Universität, als sie eine Hootenanny zur Unterstützung des Freiheitsmarsches amerikanischer Neger von Selma nach Montgomery, Alabama veranstalteten; ich habe sie abends an den Lagerfeuern der Rocky Mountains gehört, in den Intellektuellen-Cafes von San Francisco, in New Mexiko, in Florida und in New Orleans. Ruhelos trampen sie von Ort zu Ort, häufig ziehen sie aus dem „bürgerlichen" Osten der Staaten in den „liberaleren" Westen, nach Kalifornien, sie fahren In die Südstaaten, um den Negern in „freedom schools" zu helfen, ihre politischen Rechte auszuüben; ihre stille Sehnsucht ist ein Land jenseits bürgerlicher Selbstzufriedenheit und bigotter Heuchelei — viele von ihnen träumen von Mexiko, von Israel — manche würden gern nach Kuba gehen. Die jungen amerikanischen Volkssänger sind so wenig typische Amerikaner wie Günther Grass ein typischer Deutscher ist. Sie alle sind Pazifisten, die meisten von ihnen sind politisch engagiert, viele singen für die Gewerkschaften, alle singen für die Gleichheit der Rassen und gegen die unbeschreibliche Armut des „anderen Amerika". Die politischen und sozialen Probleme Amerikas werden in ihren Liedern konkret widergespiegelt: die moralische Heuchelei dieses puritanischen Landes, der Massenbetrieb an den Großuniversitäten, die Beschränkung der Redefreiheit, die Korrumpierung gewisser, kleiner Gewerkschaften, die Armut, die Unbildung, das Analphabetentum. Die Hauptthemen der neuen Volkssänger Amerikas aber sind die Civil-Rigths-Bewegung zur politischen Gleichberechtigung der Farbigen und der Unsinn des Kampfes in Vietnam.

Seit einiger Zeit hört man auch in Berlin neben dem rhythmischen Stampfen jugendlicher Beatkapellen die zarteren Töne deutscher Folkloristen. Eine Reihe von Folklore - Gruppen treffen sich regelmäßig in verschiedenen Freizeitheimen (wie die „Folkniks" im Anne-Frank-Heim), und während der Woche der Brüderlichkeit traten einige von ihnen öffentlich auf. Neben der zierlichen Susanne Tremper und der temperamentvollen Katja Witkiewicz, neben den Chansonniers „Bobby" Schulz und Lothar Lechleiter treten auch schon junge Sänger hervor, die eine „deutsche" Antwort auf die „topical folk-songs", die politisch-thematischen Volkslieder der Amerikaner geben. Da gibt es den Studenten Reiner Rowald, der sich mit dem Generationskonflikt („Ihr habt nichts gesehn, ihr habt nichts gesagt"), den Nazis („Du wirfst in der Nacht unsere Grabsteine um") und der Sehnsucht nach dauerhaftem Frieden auseinandersetzt. Der Jugendpfleger Uli Weixer hat Walter Mehring vertont und der Psychologie-Student Hubertus Hüppauff produziert aktuelle Gesellschaftskritik auf englisch und deutsch. Alle diese Sänger und ihre Freunde haben ein großes Bedürfnis, sich regelmäßig irgendwo in Berlin zu treffen, sich gegenseitig ihre Lieder vorzusingen und sich gegenseitig zu kritisieren. Man spricht davon, daß sie demnächst einen eigenen „Folklore-Schuppen" in Berlin aufmachen und sich außerdem jeden Sonntagnachmittag an einem Punkt in der City treffen werden. Dann hätte auch Berlin endlich seinen Washington Square.

  • Der Blickpunkt Nr. 150 Mai 1966, S.38f

 

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