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Archiv Rock und Revolte
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Vorüberlegungen zur historisch-materialistischen Bestimmung von Jugendphasen in Klassengesellschaften

von Manfred Liebel

Wenn von "Jugend" die Rede ist, ist gemeinhin eine bestimmte Altersgruppe oder -phase gemeint. Schon wenn versucht wird, diese Altersphase in Lebensjahren genau anzugeben, treten Schwierigkeitenauf. Die Notwendigkeit, außer dem biologischen Lebensalter zusätzliche Kriterien zu benennen, um eine bestimmte Altersgruppe als "Jugend" zu bezeichnen, liegt auf der Hand. Die Versuche, solche Kriterien zu finden, sind vielfältig:

Neben juristischen Kriterien (z.B. Ende des schulpflichtigen Alters, Volljährigkeit) werden biologische Kriterien (z.B.Eintritt der Geschlechtsreife), psychologische Kriterien (z.B.entwicklungspsychologische Reifestadien) oder soziologische Kriterien (z.B. Berufseintritt, Eheschließung) angeführt. Je nach Kriterium werden Altersphasen zwischen etwa 12 (z.B. Eintritt der Geschlechtsreife) und 25 Lebensjahren (Abschluß eines Hochschulstudiums) als "Jugend" bezeichnet. Die Auswahl der Kriterien scheint beliebig und im besten Fall davon abhängig zu sein, zu welchem Zweck eine bestimmte Altersphase als "Jugend" definiert werden soll, wobei dieser Zweck selber wiederum beliebig zu sein scheint. Es scheint, als sei die Frage, was denn Jugend sei, beantwortet, wenn man jeweils einen juristischen, biologischen, psychologischen oder soziologischen Jugendbegriff unterscheide, der allein der jeweiligen Kriterien-Definition entspringt.

Wenn diese verschiedenen Jugendbegriffe isoliert im Sinne einer formalen Kriterien-Definition und pluralistischen Gleichrangigkeit verstanden und verwendet werden, führen sie in die Irre. Dies wird schon daran deutlich, daß die so eindeutig erscheinenden Kriterien der Volljährigkeit oder das Endes der Schulpflicht (bzw. der Existenz einer Schulpflicht überhaupt) historischen Veränderungen unterliegen,die selber mit juristischen Kategorien nicht erklärt werden können. Ähnliches gilt auch für Kriterien wie Eintritt der Geschlechtsreife, Beginn und Vollendung eines bestimmten psychischen Reifestadiums (hier bereitet die eindeutige Definition selbst Schwierigkeiten), durchschnittliches Heiratsalter etc. Alle diese Kriterien unterliegen historischen Veränderungen, die mit biologischen oder psychologischen Kategorien allein nicht erklärt werden können. Wenn Begriffe mehr sein sollen als beliebig ausfüllbare Worthülsen, wenn sie selber historische Veränderungen des durch sie bezeichneten Gegenstandes erklären helfen sollen, müssen die Bewegungskräfte menschlicher Gesell Schäften, ihre soziale Dynamik in die Begriffsbildung selber miteingehen. In der Bestimmung eines solchen Jugendbegriffs kommen wir deshalb "keinen Schritt weiter, wenn ihr die der Altersphase entsprechenden biologischen und psychologischen Qualitäten zugrunde gelegt werden. In dem Zusammenhang ist es vielmehr richtig, zu sagen, daß gesellschaftliche Bedingungen eine bestimmte Altersphase als "Jugend" hervorbringen und dann biologische, psychologische usw. Merkmale als typisch "jugendlich bezeichnet werden."(1)

Wenn die begriffliche Bestimmung von Jugend auf die je isolierte Definition einzelner Wissenschaftsdisziplinen (verschiedene fachwissenschaftliche Jugendbegriffe) beschränkt und damit die als Jugend definierten Menschen auf Einzelaspekte ihres Daseins reduziert werden; oder: wenn Definitionskriterien wie Rechtsnormen, biologische und psychische Entwicklungsstadien als von menschlicher Praxis losgelöste naturhafte Gegebenheiten und Vorgänge, d.h. unabhängig von sozialen Prozessen begriffen werden, - dann haben wir es mit einer verdinglichten Begriffssprache zu tun, die die Lebenswirklichkeit der Menschen in den verschiedenen Lebensabschnitten nur verzerrt zur Darstellung bringen und erklären kann. Der Hang zur Verdinglichung ist nicht das negative Privileg der genannten Wissenschaftsdisziplinen allein, sondern dominiert auch in der soziologischen Jugendforschung (wie der soziologischen Forschung überhaupt), seit es sie gibt.

In der soziologischen Jugendforschung wird Jugend eher unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftlichen Funktion begriffen und untersucht, sie wird jedoch auch hier in der Weise verdinglicht, daß gewisse "ewige" Züge des Jugendalters konstatiert werden und "geschichtslos von der Jugend" gesprochen 2) wird. ' Demnach soll sich Jugend dadurch auszeichnen, daß sie durch verschiedene gesellschaftliche Entwicklungsetappen hindurch bestimmte, gleichbleibende Eigenschaften besitzt, die ihrem "jugendlichen Wesen" entspringen 3). Jugend erscheint als autonomes Element, die Tatsache des Jungseins selber soll über die Stellung und Funktion der als "Jugend" bezeichneten Altersgruppe in der Gesellschaft entscheiden.

Die "Tendenz, die Jugend zu verdinglichen" 4) drückt sich am häufigsten in dem Versuch aus, die Strukturwandlungen und Dynamik von Gesellschaften mit jugendspezifischen Kategorien zu erklären, z.B. indem als spezifisch jugendliche Eigenschaft der Drang nach Neuem angegeben wird oder indem verschiedenen Altersgruppen unterschiedliche Eigenschaften zugerechnet werden, die dem Lebensalter selber entspringen und zu sog. Generationenkonflikten führen sollen. Zwar ist nicht zu übersehen, daß in den uns bekannten menschlichen Gesellschaften die Beziehungen zwischen Jung und Alt eine gewisse Bedeutung hatten und mitunter von Konflikten gekennzeichnet waren, jedoch entbehrt es jeder nachweisbaren Grundlage, wenn man - wie es auch in der soziologischen Jugendforschung häufig geschieht - "an ihnen Stabilität, Wandel, Kontinuität und Diskontinuität ablesen zu können glaubt ... Nicht die Beziehungen zwischen den einzelnen Altersklassen erklären Wandel und Stabilität von Gesellschaften, sondern der Wandel der Gesellschaften erklärt die Beziehungen der verschiedenen Altersklassen untereinander." 5)

Auch wenn wir konstatieren, daß die Altersgliederung in allen menschlichen Gesellschaften eine gewisse, sich freilich verändernde Bolle in der sozialen Struktur gespielt hat (vgl. z.B. die verschiedenen Initiationsriten),so "bestimmt aber nicht die Altersphase die Stellung des Menschen im Produktions- und Reproduktionsprozeß, sondern der Jeweilige Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bestimmt die spezifische Stellung der Altersphasen und legt soziologisch relevante Altersphasen fest." 6) Die historisch-materialistische Bestimmung einer Altersphase als "Jugendphase" leitet sich von der Entwicklung der Produktivkräfte und der Stellung bestimmter Altersgruppen im durch die Produktionsverhältnisse determinierten System der Klassenbeziehungen ab.

Wenn die Stellung der Jugend und deren Entwicklung in einer gestimmten Gesellschaftsordnung entscheidend bestimmt wird durch die Art der Arbeitsteilung, die Entwicklung der Produktivkräfte, den Charakter der Arbeit und der Produktionsverhältnisse, ist es unabdingbar, "jede Untersuchung von Jugend auf die Struktur der Gesellschaft insgesamt zu beziehen". 7) D.h. Jugendforschung, die der Verdinglichung entgehen und wissenschaftlichen Ansprüchen genügen will, muß von einer Analyse der materiell-ökonomischen Grundlagen und Beziehungen zwischen den sozialen Klassen ausgehen und diese in ihren Auswirkungen auf die Entstehung und die Eigenheiten je besonderer Jugendphasen untersuchen.

Eine Jugendtheorie, die sich auf eine Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise bezieht, muß, wenn sie die Jugendfrage nicht falsch stellen und ideologisch vernebeln soll, die materielle Reproduktion einer Gesellschaft als Reproduktion von Klassenverhältnissen und die individuelle Reproduktion als Reproduktion von Klassenindividuen erhellen. Auf die Jugendphase bezogen heißt dies, daß sie klären helfen muß, wie die individuelle Entwicklung, der Prozeß des Heranwachseins und der gesellschaftlichen Integration von den Klassenverhältnissen unl der jeweiligen Klassenzugehörigkeit in allen Lebensabschnitten geprägt wird, und wie der kapitalistische Produktionsprozeß, die auf ihn bezogene individuelle Qualifikation und die von der Stellung im Produktionsprozeß im wesentlichen abhängigen Reproduktionsbedingungen sich auf die objektive Stellung und das Bewußtsein von Kindern und Jugendlichen jeweils auswirken.

Auf dieser theoretischen Grundlage vorgenommene Untersuchungen zeigen, daß bestimmte Altersphasen als Jugendphasen nicht nur in verschiedenen Gesellschaftsformationen und Entwicklungsstadien in verschiedener Weise zutage getreten sind, sondern auch in den verschiedenen Klassen der jeweiligen Gesellschaftsformation grundsätzlich verschiedenen Charakter hatten.8)

Anmerkungen

1) Siegfried Ransch, Jugend und Jugendsoziologie. Ein Beitrag zur Analyse der westdeutschen bürgerlichen Jugendsoziologie. Wirtschaftswissenschaftliche Dissertation, Humboldt-Universität Berlin(DDR), September 1965, S. 134
2) A.a.O., S.8
3) Vgl. z.B. Andreas Flitner, Soziologische Jugendforschung. Darstellung und Kritik aus pädagogischer Sicht. Heidelberg 1963, S. 134 u.ö.
4) Sheila Allen, Some Theoretical Problems in the Study of Youth. In: The sociological ßeview, Vol.16, No. 3, New Series, November 1968, S. 326
5) A.a.O., S. 321
6) S. Ransch, a.a.O., S. 4 - Vgl. auch Christoph Hübner/ Manfred Liebel/Monika Reichelt, Politökonomische Bestimmung zur Lage der Arbeiterjugend im Kapitalismus und deren Bedeutung für die Entwicklung des Klassenbewußtseins. In: Erziehung und Klassenkampf. 1. Jg. (1971)» H.l, S. 5 ff.
7) Sheila Allen, Soziale Klasse und Generationsbildung. In: Allerbeck/Rosenmayr, Aufstand der Jugend ? Neue Aspekte der Jugendsoziologie. München 1971, S. 46
8) Hierzu siehe im einzelnen das in dieser Veranstaltung vorgelegte Arbeitspapier von Hellmut Lessing, Überlegungen zur Soziologie der Arbeiterjugend.

 

  • Pädagogische Hochschule Berlin / SS 1972 Manfred Liebel
    Vor Überlegungen zur historisch-materialistischen Bestimmung von Jugendphasen in Klassengesellschaften

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