Der Blues und
die Folgen"Eigentlich begann doch alles mit dem Blues,
der von findigen Musikmanagern kommerzialisiert wurde, das heißt,
banalisiert, verflacht, entschärft — kaufbar gemacht. Etikett: Rock'n Roll.
Der Rock war eine wirkliche Revolution für die Unterhaltungsmusik. In die
Belanglosigkeit des Schlagergedudels hieb er mit nie vorher praktizierten
Rhythmusattacken; die Heiserstimmen seiner Interpreten, etwa Bill Haley,
kratzten gehörig am Zuckerwerk der bislang satt-zufriedenen Tönefabrikation.
Die neue Musik gedieh am heimischen Herd zur Marseillaise gegen Vati und
Mutti. Sie stach unmittelbar in den Gefühlsnerv, sie legte Energien frei
beim Publikum, arrangierte den Krawall, weil sie aufgestaute Aggression zum
Entladen brachte. Der Rock präsentierte neue Idole. Diese hatten sich fortan
mit ihren Liedern zu identifizieren, Intensität des Vertrags überwog
stimmliches Können nach herkömmlichem Verständnis.
Die Zentralfigur war Elvis, dessen Darbietungen die Sexualsphäre im
Visier hatten. Er machte es, daß künftige Popstars zum fiktiven
Geschlechtspartner stilisiert wurden. Der Rock wurde
zur Volksmusik, da er jederzeit durch Radio und Plattenspieler konsumierbar
wurde. Und er ermöglichte den Tanz, bisweilen Freizeitspaß der
Privilegierten und Symbol des „gesellschaftlichen Lebens" einiger.
Mit der Liverpool-Ära, mit den Beatles, begann sich das Rock-Idol zu
vierteilen: man gewöhnte sich daran, sein Verehrungsobjekt, den Star, aus
einem Quartett herauszupicken. Und für jeden Geschmack war da etwas: der
Kecke (Paul), der Sentimentale (George), der Clown (Ringo) und der Kluge
(John). Beatles und Elvis gaben Hoffnung, da sie das Märchen vom Prinzen und
der armen Köhlerstochter neu verwirklichten: der Lastwagenfahrer Elvis und
die Slum-Kinder, die sich später Beatles nannten, demonstrierten den Traum
vom großen Glück, den sie verwirklichten. Sorgfältigst in Garderobe und
Haartracht herausstaffiert, musikalisch neuartig von George Martin
aufgeputzt, wurden die „Pilzköpfe" nach entbehrungsreichen Lehr- und
Wanderjahren in die Arena geschickt, um als Debütanten die Profis zu
stürzen.
Potential der Namenlosen
Was indes keiner ahnte, war dies: die mit viel Aufwand und geschäftlicher
Ambition (Brian Epstein) auf Kometenlaufbahn geschossenen Jungidole erwiesen
sich — nach geglücktem Rampenschuß — zu eigenem Antrieb fähig. Während ein
Helmut Lamprecht noch am 4. Juli 1964 in der FAZ räsonierte: „Alle heulen
mit den Beatles", und er sich über die „Kunst, aus Lärm ein Geschäft zu
machen" ausbreitete, kapierten die, die hinhörten, daß sich Talente
entwickelten. Aus dem vordergründigen „Yeah, yeah, yeah", dem optimistischen
Schlachtruf des Quartets, formten sich diffizile musikalische Mitteilungen,
und die Feuilletonredakteure angesehener Blätter wühlten verzückt im
Lyrik-Fundus der „Schreihälse". Daß diese einen Haufen Geld verdienten, daß
mit ihnen das große Geschäft blühte, verdroß Beatle-Gegner Lamprecht
gehörig: „Das Geschäft mit der Kaufkraft der Teenager..., die Intensität,
mit der sie auf den Konsum von . . . Massenschund gedrillt werden, droht
mittlerweile schändliche Formen anzunehmen" („Teenager und Manager", S.
101). Es stimmt: die Teenies waren bereit, Geld dafür
zu bezahlen, daß sie sich in den Liverpooler Klängen wiederentdecken
durften. Daß hier in den Beatle-Songs ihr Lebensgefühl konkretisiert wurde.
Und das ist ein Kriterium der Kunst. Die Beatles waren Künstler.
Aus den Gründerjahren des Pop gibt es eigentlich heute nur noch Elvis und
die Rolling Stones, diese trugen — mit gelegentlichen Ausflügen in andere
Bereiche — wacker den Blues durch die Pop-Musik. Ihre gepflegte Dreckigkeit,
ihr Schmuddel-Look schaffte ihnen Abstand von den Beatles, mit denen sie
eigentlich nie konkurrierten. Die Stones gibt es heute noch. Sie fummeln
Rhythm'n Blues, propagieren Guerilla-Ideologie („Street Fightin' Man"),
haben ihre Häuser an der Südküste Frankreichs, im Terrain des
Establishments. Sie pinkeln offiziell in Handwaschbecken, verdienen mit
einem Film („Glimme Shelter"), der unter anderem zeigt, wie ein Farbiger
während des Stones-Konzerts von Hell's Angels mit dem Messer ermordet wird.
Neues zur Pop-Musik haben sie nicht beizutragen, deren Tod können sie nicht
aufhalten. Die sechziger Jahre hatten viele Pop-Epochen. Da waren die Jahre
Dylans.
Mit der Fähigkeit, Gedanken und Gegenwartsthemen in bildhafter Lyrik zu
präsentieren und mit schönen Melodien singbar zu machen, reüssierte Bob
Dylan als Nachfahre amerikanischer Balladensänger. Mit Joan Baez, P. F.
Sloan, Pete Seeger ging die „Protest-Ära" ins Land. Rauschgift, Verbrechen,
Vietnamkrieg, Atombombe, Ostermarsch — das politisch' Lied, das garstig'
Lied, lief der Politisierung der Jugend — ausgehend von den Universitäten —
parallel. Doch als Dylan abtrat, um bestenfalls fade Coun-try-Songs zu
säuseln, um im Süßschleim der Westerngitarren zu versinken, war auch das
vorbei. Der Protest wurde abseits vom Publikum weitergesungen.
Underground an der Oberfläche
Aus den unzählbaren Pop-Gestalten, die die Szene bevölkerten, gab es nur
wenige, die Entscheidendes beitrugen. Wie Jimi Hendrix, der vor einem Jahr
angeblich an Drogen starb. Seine Art, Gitarre zu spielen als Libido-Ersatz,
sie zu handhaben mit koitaler Inbrunst, fand unzählige Kopisten. Wenn er
sein Instrument liebkoste oder böse traktierte, wenn er darauf die
Nationalhymne zerfetzte (Woodstock), oder mit ihr die Einsamkeit besang („The
Wind Cries Mary"), dann hörte die Welt zu. Alles was man vor Jimi über die
Gitarre wußte, konnte man getrost vergessen. Jetzt war es möglich, auf sechs
Saiten zu orgeln, zu donnern, zu zerstören und von einer anderen, wohl
besseren Welt zu wispern. Mit queren Tönen, mit Klang-Collage-"" tönte es
aus dem „Underground" herau Abseits vom etablierten Musikbetrieb hatten sich
Pop-Gruppen verselbständigt, eigene Produktions- und Plattenfirmen
gegründet, um sich selbst musikalisch zu verwirklichen. Velvet Underground,
David Peel And The Lower Eastside, Grateful Dead — Namen, die man kaum noch
kennt. Der Untergrund ging nach oben, um oben am Geld zu naschen. Protest
und Minderheitensympathie gingen weg wie warme Semmeln; nur — anders als
beim Beatle-Boom — hier wurde mit Anti-Kommerz-Kampagnen Geld verdient. Hier
wurde zynisch mit den Methoden des Establishments gegen das Establishment
gefeuert. Ziemlich am Ende war Woodstock. Erstens: ein Happening mit 500000
Leuten, die freiwillig eine Völkerwanderung inszeniert hatten, um die
Rock-Idole zu genießen. Zweitens: ein Mythos. Der Mythos vom friedlichen
Miteinander, vom „make love not war", vom Sonnenhimmel, df allenfalls durch
zarte Haschwölkchen. bedeckt wurde. Die
„Woodstock-Generation" kam bei Woodstock zur eigenen Beerdigung. Es bleiben
einige Platten und ein Film. Denn fortan wird wieder die Brutalität Zugang
zu den Friedensfesten haben, Rocker werden mit Eisenketten munter auf die
Love-Generation einprügeln oder gar (s, o.!) mit Messern meucheln.
Viele der Idolgruppen haben sich aufgelöst, einzelne Musiker haben sich
mehr oder weniger selbsttätig ins Grab gebracht: Jimi Hendrix, AI Wilson (Canned
Heat) oder — sie waren nicht in Woodstock — Janis Joplin und Jim Morrison (Doors).
Wir hatten den Soul (Wilson Pickett, Otis Redding), wir hatten die Gegenwartsreflektion
im Country-Rock-Kostüm (Simon & Garfunkel pausieren inzwischen), wir hatten
— als musikalische Beilage für die Drogenfahrt — die „psychedelic music".
Was haben wir jetzt?
Leere Gegenwart
Nichts. Nichts Besonderes. Klar ist nur, daß das Gruppensterben
weitergeht. Oder daß die Musiker sich nur
gelegentlich finden, schnell einen Namen zaubern, um sich dann wieder
aufzulösen. Formationen wie Deep Purple etwa, mauern sich — durchaus
erfolgreich — mit ihrem „hard rock" ein, stehen wie ein Fels („Deep Purple
In Rock") in den Wogen der Auflösung. Die Uniformität der unüberschaubaren
Menge zweitklassiger Bands aber ist entnervend. Sie taumeln im Wirrwarr der
Stilarten, unfähig, sich eigenständig zu äußern. Was bleibt, ist das Warten.
Warten etwa auf eine neue LP der Pink Floyd, mit der Hoffnung,
daß sie ihre Kompositionen in Konstruktionen aus
Naturgeräuschen und Kunststoffklängen weitertreiben. Warten vieleicht auf
Soft Machine oder Frank Zappa.
Lückenbüßer
Aber auch die Leere wird kaschiert. Solisten drängen nach vorn. Entweder
sind es Band-Flüchtlinge, die nun den Alleingang zur Unsterblichkeit
versuchen (Crosby, Stills, Nash and Young — sie fungieren
zeitlich als Gruppe oder allein), oder aber aus dem Mittelfeld aufgerückte
Einzeltäter: Elton John etwa, der „dumme August" am Klavier, oder
Elton-John-Entdecker Leon Russel, der als
Klaviergehilfe von Pop-Königen nunmehr selbst nach der Krone strebt. Wir
haben, erfährt man, die Zeit der „sanften Troubadoure" mit ihrem Superstar
James Taylor. Diese Leute haben die Konflikte der Umwelt, die
Gesellschaftsprobleme, „verinnerlicht". Statt offen gegen Mißstände
anzusingen, wie es beim Protestsong Mode war, kotzen (pardon!) sie sich aus,
salbadern über ihr Innenleben oder ihre Vergangenheit. James Taylor, man
weiß es inzwischen — seine Biographie wurde vielfach
publiziert —, war rauschgiftsüchtig und hat es geschafft, davon loszukommen.
Das ist Motiv genug, um ein Topstar zu werden. In perfekter Mittelmäßigkeit
präsentiert er seine Lieder mit mittelmäßigen Melodien und mittelmäßiger
Lyrik. Da sich die amerikanische Country-Musik zunehmend beliebt macht, wird
alles auf Landluft abgestimmt.
James Taylor zum Beispiel
Zudem haben schluchzende Westernklampfen einen akustischen Vorteil: sie
sind leiser als elektrische Rock-Gruppen. Zärtlich klimpernd ordnen sie sich
den Solisten unter, die sich nunmehr überall etablieren: teilweise Neulinge,
teilweises Profis, die — aus bekannten Gruppen stammend — sich allein im
Rampenlicht sehen wollen. Ein „newcomer" ist eben James Taylor. „Über dem
neuen Rock liegt ein Klima der Resignation", entdeckt der Plattengigant
Kinney, der die meisten Künstler des neuen Stils produziert.
Resignation, wird erklärt, als Reaktion auf verlorene Hoffnungen: „Die
politischen Aktivisten unter der Jugend mußten einsehen, daß allein mit der
Pop-Musik keine Revolution zu machen" sei (Kinney). Und: „Die Musik wurde
zur Mode, zur Ware, zum Konsumartikel für Woolworth-Hippies und
Wochenend-Drop-outs." Und John Lennon soll gesagt haben: „Der Traum ist
ausgeträumt, wir müssen zurück auf den Boden der sogenannten Realität."
Das aber leistet die neue Pop-Musik, besser Rock-Musik (Etikett für
alles, was etwas außerhalb der Kommerzialität liegt!) nicht. Sagt Taylor:
„Jedes Wort über meine Texte ist, bestenfalls, überflüssig." Man kommt in
Versuchung, dieses Understatement als Statement zu begreifen. Denn wenn
Taylor nicht aus seiner Biographie singt (s.o.!), singt er so: „Ist es nicht
nett, wieder zu Hause zu sein, ich sagte willkommen, zu Hause, dein Lächeln,
wie haben wir es vermißt, well, die Sonne ist nett in Los Angeles, der
Sonnenschein — ist es nicht nett, wieder zu Hause zu sein — well, ich sagte,
ist es nicht nett, wieder zu Hause zu sein." („Isn't It
Nice To Be Home Again"). Bei allem Wohlwollen — das ist doch etwas dünn.
Und der Ego-Trip, die „Reise zum Mittelpunkt des Ich", ein Modewort für
Selbstanalyse oder eine elegante Umschreibung für Egozentrik, formt sich für
James Taylor in solchen Zeilen: „Komm" nicht noch mal mit deinen Sorgen zu
mir, mich interessiert herzlich wenig, wie mies du dich heute fühlst. Ich
hab' meinen Ärger selbst, ich weiß doch Bescheid" („Love Has Brought Me
Around").
Gott und der Teufel
Der Drogengefahr entronnen, „hat der Schock (die neuen Solisten)
erwachsen gemacht" (Kinney). Was nun gilt, ist die Reise aufs Land. Jetzt
lockt die süße Einsamkeit einer erst teildemolierten Natur. Und
Natursehnsucht, Erinnerungen an die Vergangenheit — das kennt man bereits
aus der Chronik der Geistesgeschichte, Kapitel: Romantik. Es wäre, zählt man
richtig, inzwischen die
dritte. Und das Geschichtsbuch erinnert, daß noch etwas zur Romantik
gehörte: die religiöse Bindung. Auch das gibt's im neuen Pop. Die
Jesus-People-Bewegung (Symbol: Finger nach oben, Motto: die Einbahnstraße
menschlichen Seins führt nach oben) findet ihre musikalische Entsprechung.
Das Rock-Musical „Jesus Christ Superstar" ist ein Topknüller. Die
Titelpartie singt lan Gillan, Leadsänger der „Deep Purple". Und während er
in der Christ-Oper am Kreuz die Worte singt: „Mein Gott, warum hast du mich
verlassen?" singt er als Deep-Purple-Stimme Symbole der Abtrünnigkeit:
„Mystische Dämonen fliegen am Himmel" („Flight Of The Rat"). Denn das
Religionsgefühl der popmusikalischen Gegenwart ist zwiespältig: Gruppen wie
Black Sabbat, Black Widow oder Graham Bond besingen den Teufel. Und dessen
Personal. Ein obskures Geisterhappening spukt in vielen Plattenrillen. So
auch Exuma, der „Obeah-Man", der den Geistern der Luft verbunden ist. Ein
Pop-Ariel. Andere wiederum, wie Spooky Tooth, präsentieren das Vaterunser,
psychedelisch garniert oder flehen „Gott, habe Erbarmen! Have Mercy!"
Sei es Himmel oder Hölle — der Jesus-Trip oder Teufelsbeat bedeutet —
konträr zum Lennon-Wort — die Abkehr vom Alltag. Die Rebellion entläßt ihre
Kinder. Und das Neue im Pop ist von gestern.