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Archiv Rock und Revolte
Texte

 
Schwanengesänge vom Fließband

Eine Bilanz zur Pop-Musik von Olaf Leitner

Die Fahnen werden eingeholt, die Podien abgebaut. Die Pop-Musik begibt sich zur Ruhe. Ihre wichtigsten Impulsgeber stehen in den Museen musikalischer Erfrierung. Die Beatles etwa, mit Jenen — inspiriert durch den Rock'n Roll — eigentlich alles begann. Und alles endete, als das Quartett beschloß, nicht mehr zu existieren. Als sie ihren Job als popheilige Vierfaltigkeit kündigten, kündigten mit ihnen Epigonen, Mit- und Vorreiter, Avantgardisten und Kommerz-Musikanten. Die Erbmasse des sterbenden Pop-Zeitalters zu sichten, bereitet durch ihre Vielfalt Mühe.

Der Blues und die Folgen

"Eigentlich begann doch alles mit dem Blues, der von findigen Musikmanagern kommerzialisiert wurde, das heißt, banalisiert, verflacht, entschärft — kaufbar gemacht. Etikett: Rock'n Roll. Der Rock war eine wirkliche Revolution für die Unterhaltungsmusik. In die Belanglosigkeit des Schlagergedudels hieb er mit nie vorher praktizierten Rhythmusattacken; die Heiserstimmen seiner Interpreten, etwa Bill Haley, kratzten gehörig am Zuckerwerk der bislang satt-zufriedenen Tönefabrikation. Die neue Musik gedieh am heimischen Herd zur Marseillaise gegen Vati und Mutti. Sie stach unmittelbar in den Gefühlsnerv, sie legte Energien frei beim Publikum, arrangierte den Krawall, weil sie aufgestaute Aggression zum Entladen brachte. Der Rock präsentierte neue Idole. Diese hatten sich fortan mit ihren Liedern zu identifizieren, Intensität des Vertrags überwog stimmliches Können nach herkömmlichem Verständnis.

Die Zentralfigur war Elvis, dessen Darbietungen die Sexualsphäre im Visier hatten. Er machte es, daß künftige Popstars zum fiktiven Geschlechtspartner stilisiert wurden. Der Rock wurde zur Volksmusik, da er jederzeit durch Radio und Plattenspieler konsumierbar wurde. Und er ermöglichte den Tanz, bisweilen Freizeitspaß der Privilegierten und Symbol des „gesellschaftlichen Lebens" einiger.

Mit der Liverpool-Ära, mit den Beatles, begann sich das Rock-Idol zu vierteilen: man gewöhnte sich daran, sein Verehrungsobjekt, den Star, aus einem Quartett herauszupicken. Und für jeden Geschmack war da etwas: der Kecke (Paul), der Sentimentale (George), der Clown (Ringo) und der Kluge (John). Beatles und Elvis gaben Hoffnung, da sie das Märchen vom Prinzen und der armen Köhlerstochter neu verwirklichten: der Lastwagenfahrer Elvis und die Slum-Kinder, die sich später Beatles nannten, demonstrierten den Traum vom großen Glück, den sie verwirklichten. Sorgfältigst in Garderobe und Haartracht herausstaffiert, musikalisch neuartig von George Martin aufgeputzt, wurden die „Pilzköpfe" nach entbehrungsreichen Lehr- und Wanderjahren in die Arena geschickt, um als Debütanten die Profis zu stürzen.

Potential der Namenlosen

Was indes keiner ahnte, war dies: die mit viel Aufwand und geschäftlicher Ambition (Brian Epstein) auf Kometenlaufbahn geschossenen Jungidole erwiesen sich — nach geglücktem Rampenschuß — zu eigenem Antrieb fähig. Während ein Helmut Lamprecht noch am 4. Juli 1964 in der FAZ räsonierte: „Alle heulen mit den Beatles", und er sich über die „Kunst, aus Lärm ein Geschäft zu machen" ausbreitete, kapierten die, die hinhörten, daß sich Talente entwickelten. Aus dem vordergründigen „Yeah, yeah, yeah", dem optimistischen Schlachtruf des Quartets, formten sich diffizile musikalische Mitteilungen, und die Feuilletonredakteure angesehener Blätter wühlten verzückt im Lyrik-Fundus der „Schreihälse". Daß diese einen Haufen Geld verdienten, daß mit ihnen das große Geschäft blühte, verdroß Beatle-Gegner Lamprecht gehörig: „Das Geschäft mit der Kaufkraft der Teenager..., die Intensität, mit der sie auf den Konsum von . . . Massenschund gedrillt werden, droht mittlerweile schändliche Formen anzunehmen" („Teenager und Manager", S. 101). Es stimmt: die Teenies waren bereit, Geld dafür zu bezahlen, daß sie sich in den Liverpooler Klängen wiederentdecken durften. Daß hier in den Beatle-Songs ihr Lebensgefühl konkretisiert wurde. Und das ist ein Kriterium der Kunst. Die Beatles waren Künstler.

Aus den Gründerjahren des Pop gibt es eigentlich heute nur noch Elvis und die Rolling Stones, diese trugen — mit gelegentlichen Ausflügen in andere Bereiche — wacker den Blues durch die Pop-Musik. Ihre gepflegte Dreckigkeit, ihr Schmuddel-Look schaffte ihnen Abstand von den Beatles, mit denen sie eigentlich nie konkurrierten. Die Stones gibt es heute noch. Sie fummeln Rhythm'n Blues, propagieren Guerilla-Ideologie („Street Fightin' Man"), haben ihre Häuser an der Südküste Frankreichs, im Terrain des Establishments. Sie pinkeln offiziell in Handwaschbecken, verdienen mit einem Film („Glimme Shelter"), der unter anderem zeigt, wie ein Farbiger während des Stones-Konzerts von Hell's Angels mit dem Messer ermordet wird. Neues zur Pop-Musik haben sie nicht beizutragen, deren Tod können sie nicht aufhalten. Die sechziger Jahre hatten viele Pop-Epochen. Da waren die Jahre Dylans.

Mit der Fähigkeit, Gedanken und Gegenwartsthemen in bildhafter Lyrik zu präsentieren und mit schönen Melodien singbar zu machen, reüssierte Bob Dylan als Nachfahre amerikanischer Balladensänger. Mit Joan Baez, P. F. Sloan, Pete Seeger ging die „Protest-Ära" ins Land. Rauschgift, Verbrechen, Vietnamkrieg, Atombombe, Ostermarsch — das politisch' Lied, das garstig' Lied, lief der Politisierung der Jugend — ausgehend von den Universitäten — parallel. Doch als Dylan abtrat, um bestenfalls fade Coun-try-Songs zu säuseln, um im Süßschleim der Westerngitarren zu versinken, war auch das vorbei. Der Protest wurde abseits vom Publikum weitergesungen.

Underground an der Oberfläche

Aus den unzählbaren Pop-Gestalten, die die Szene bevölkerten, gab es nur wenige, die Entscheidendes beitrugen. Wie Jimi Hendrix, der vor einem Jahr angeblich an Drogen starb. Seine Art, Gitarre zu spielen als Libido-Ersatz, sie zu handhaben mit koitaler Inbrunst, fand unzählige Kopisten. Wenn er sein Instrument liebkoste oder böse traktierte, wenn er darauf die Nationalhymne zerfetzte (Woodstock), oder mit ihr die Einsamkeit besang („The Wind Cries Mary"), dann hörte die Welt zu. Alles was man vor Jimi über die Gitarre wußte, konnte man getrost vergessen. Jetzt war es möglich, auf sechs Saiten zu orgeln, zu donnern, zu zerstören und von einer anderen, wohl besseren Welt zu wispern. Mit queren Tönen, mit Klang-Collage-"" tönte es aus dem „Underground" herau Abseits vom etablierten Musikbetrieb hatten sich Pop-Gruppen verselbständigt, eigene Produktions- und Plattenfirmen gegründet, um sich selbst musikalisch zu verwirklichen. Velvet Underground, David Peel And The Lower Eastside, Grateful Dead — Namen, die man kaum noch kennt. Der Untergrund ging nach oben, um oben am Geld zu naschen. Protest und Minderheitensympathie gingen weg wie warme Semmeln; nur — anders als beim Beatle-Boom — hier wurde mit Anti-Kommerz-Kampagnen Geld verdient. Hier wurde zynisch mit den Methoden des Establishments gegen das Establishment gefeuert. Ziemlich am Ende war Woodstock. Erstens: ein Happening mit 500000 Leuten, die freiwillig eine Völkerwanderung inszeniert hatten, um die Rock-Idole zu genießen. Zweitens: ein Mythos. Der Mythos vom friedlichen Miteinander, vom „make love not war", vom Sonnenhimmel, df allenfalls durch zarte Haschwölkchen. bedeckt wurde. Die „Woodstock-Generation" kam bei Woodstock zur eigenen Beerdigung. Es bleiben einige Platten und ein Film. Denn fortan wird wieder die Brutalität Zugang zu den Friedensfesten haben, Rocker werden mit Eisenketten munter auf die Love-Generation einprügeln oder gar (s, o.!) mit Messern meucheln.

Viele der Idolgruppen haben sich aufgelöst, einzelne Musiker haben sich mehr oder weniger selbsttätig ins Grab gebracht: Jimi Hendrix, AI Wilson (Canned Heat) oder — sie waren nicht in Woodstock — Janis Joplin und Jim Morrison (Doors).

Wir hatten den Soul (Wilson Pickett, Otis Redding), wir hatten die Gegenwartsreflektion im Country-Rock-Kostüm (Simon & Garfunkel pausieren inzwischen), wir hatten — als musikalische Beilage für die Drogenfahrt — die „psychedelic music". Was haben wir jetzt?

Leere Gegenwart

Nichts. Nichts Besonderes. Klar ist nur, daß das Gruppensterben weitergeht. Oder daß die Musiker sich nur gelegentlich finden, schnell einen Namen zaubern, um sich dann wieder aufzulösen. Formationen wie Deep Purple etwa, mauern sich — durchaus erfolgreich — mit ihrem „hard rock" ein, stehen wie ein Fels („Deep Purple In Rock") in den Wogen der Auflösung. Die Uniformität der unüberschaubaren Menge zweitklassiger Bands aber ist entnervend. Sie taumeln im Wirrwarr der Stilarten, unfähig, sich eigenständig zu äußern. Was bleibt, ist das Warten. Warten etwa auf eine neue LP der Pink Floyd, mit der Hoffnung, daß sie ihre Kompositionen in Konstruktionen aus Naturgeräuschen und Kunststoffklängen weitertreiben. Warten vieleicht auf Soft Machine oder Frank Zappa.

Lückenbüßer

Aber auch die Leere wird kaschiert. Solisten drängen nach vorn. Entweder sind es Band-Flüchtlinge, die nun den Alleingang zur Unsterblichkeit versuchen (Crosby, Stills, Nash and Young — sie fungieren zeitlich als Gruppe oder allein), oder aber aus dem Mittelfeld aufgerückte Einzeltäter: Elton John etwa, der „dumme August" am Klavier, oder Elton-John-Entdecker Leon Russel, der als Klaviergehilfe von Pop-Königen nunmehr selbst nach der Krone strebt. Wir haben, erfährt man, die Zeit der „sanften Troubadoure" mit ihrem Superstar James Taylor. Diese Leute haben die Konflikte der Umwelt, die Gesellschaftsprobleme, „verinnerlicht". Statt offen gegen Mißstände anzusingen, wie es beim Protestsong Mode war, kotzen (pardon!) sie sich aus, salbadern über ihr Innenleben oder ihre Vergangenheit. James Taylor, man weiß es inzwischen — seine Biographie wurde vielfach publiziert —, war rauschgiftsüchtig und hat es geschafft, davon loszukommen. Das ist Motiv genug, um ein Topstar zu werden. In perfekter Mittelmäßigkeit präsentiert er seine Lieder mit mittelmäßigen Melodien und mittelmäßiger Lyrik. Da sich die amerikanische Country-Musik zunehmend beliebt macht, wird alles auf Landluft abgestimmt.

James Taylor zum Beispiel

Zudem haben schluchzende Westernklampfen einen akustischen Vorteil: sie sind leiser als elektrische Rock-Gruppen. Zärtlich klimpernd ordnen sie sich den Solisten unter, die sich nunmehr überall etablieren: teilweise Neulinge, teilweises Profis, die — aus bekannten Gruppen stammend — sich allein im Rampenlicht sehen wollen. Ein „newcomer" ist eben James Taylor. „Über dem neuen Rock liegt ein Klima der Resignation", entdeckt der Plattengigant Kinney, der die meisten Künstler des neuen Stils produziert.

Resignation, wird erklärt, als Reaktion auf verlorene Hoffnungen: „Die politischen Aktivisten unter der Jugend mußten einsehen, daß allein mit der Pop-Musik keine Revolution zu machen" sei (Kinney). Und: „Die Musik wurde zur Mode, zur Ware, zum Konsumartikel für Woolworth-Hippies und Wochenend-Drop-outs." Und John Lennon soll gesagt haben: „Der Traum ist ausgeträumt, wir müssen zurück auf den Boden der sogenannten Realität."

Das aber leistet die neue Pop-Musik, besser Rock-Musik (Etikett für alles, was etwas außerhalb der Kommerzialität liegt!) nicht. Sagt Taylor: „Jedes Wort über meine Texte ist, bestenfalls, überflüssig." Man kommt in Versuchung, dieses Understatement als Statement zu begreifen. Denn wenn Taylor nicht aus seiner Biographie singt (s.o.!), singt er so: „Ist es nicht nett, wieder zu Hause zu sein, ich sagte willkommen, zu Hause, dein Lächeln, wie haben wir es vermißt, well, die Sonne ist nett in Los Angeles, der Sonnenschein — ist es nicht nett, wieder zu Hause zu sein — well, ich sagte, ist es nicht nett, wieder zu Hause zu sein." („Isn't It Nice To Be Home Again"). Bei allem Wohlwollen — das ist doch etwas dünn.

Und der Ego-Trip, die „Reise zum Mittelpunkt des Ich", ein Modewort für Selbstanalyse oder eine elegante Umschreibung für Egozentrik, formt sich für James Taylor in solchen Zeilen: „Komm" nicht noch mal mit deinen Sorgen zu mir, mich interessiert herzlich wenig, wie mies du dich heute fühlst. Ich hab' meinen Ärger selbst, ich weiß doch Bescheid" („Love Has Brought Me Around").

Gott und der Teufel

Der Drogengefahr entronnen, „hat der Schock (die neuen Solisten) erwachsen gemacht" (Kinney). Was nun gilt, ist die Reise aufs Land. Jetzt lockt die süße Einsamkeit einer erst teildemolierten Natur. Und Natursehnsucht, Erinnerungen an die Vergangenheit — das kennt man bereits aus der Chronik der Geistesgeschichte, Kapitel: Romantik. Es wäre, zählt man richtig, inzwischen die

dritte. Und das Geschichtsbuch erinnert, daß noch etwas zur Romantik gehörte: die religiöse Bindung. Auch das gibt's im neuen Pop. Die Jesus-People-Bewegung (Symbol: Finger nach oben, Motto: die Einbahnstraße menschlichen Seins führt nach oben) findet ihre musikalische Entsprechung. Das Rock-Musical „Jesus Christ Superstar" ist ein Topknüller. Die Titelpartie singt lan Gillan, Leadsänger der „Deep Purple". Und während er in der Christ-Oper am Kreuz die Worte singt: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" singt er als Deep-Purple-Stimme Symbole der Abtrünnigkeit: „Mystische Dämonen fliegen am Himmel" („Flight Of The Rat"). Denn das Religionsgefühl der popmusikalischen Gegenwart ist zwiespältig: Gruppen wie Black Sabbat, Black Widow oder Graham Bond besingen den Teufel. Und dessen Personal. Ein obskures Geisterhappening spukt in vielen Plattenrillen. So auch Exuma, der „Obeah-Man", der den Geistern der Luft verbunden ist. Ein Pop-Ariel. Andere wiederum, wie Spooky Tooth, präsentieren das Vaterunser, psychedelisch garniert oder flehen „Gott, habe Erbarmen! Have Mercy!"

Sei es Himmel oder Hölle — der Jesus-Trip oder Teufelsbeat bedeutet — konträr zum Lennon-Wort — die Abkehr vom Alltag. Die Rebellion entläßt ihre Kinder. Und das Neue im Pop ist von gestern.

  • Der Blickpunkt Nr. 206/Oktober 1971, S. 18f, Zeitschrift des westberliner Landesjugendrings

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