zurück 

Archiv Rock und Revolte
Texte

 
»Revolution«
Die Ideologie des Rock
von Peter Wicke

Es gehört zu den Mythen des Rock, daß er spontan aus Erfahrungen heraus entsteht, die Musiker und Fans gemeinsam haben. Rockmusik wird industriell produziert und folgt somit erst einmal den Vorstellungen, die sich Musiker wie Produzenten von ihrem Publikum, aber auch von ihrer eigenen Tätigkeit, über Anspruch und Möglichkeiten des Musizierens, über das Verhältnis von Rockmusik und Gesellschaft machen. Daß die Musiker dabei stets das Denken und Fühlen ihrer Fans, die von ihnen entwickelten Wertmuster und kulturellen Bedeutungen der Musik zu treffen versuchen, erfolgreich sein wollen und müssen, läßt sie trotz allem nicht zum bloßen Vollzugsorgan der Wünsche ihres Publikums werden. Vielmehr reagieren sie auf dessen Ansprüche durchaus eigenständig und bewußt, um so mehr, als die meisten von ihnen einen ganz anderen sozialen Hintergrund haben als ihre Fans.


Der überwiegende Teil der Rockmusiker kommt aus den kleinbürgerlichen Mittelschichten und hat den Alltag von Arbeiterjugendlichen nie kennengelernt. Und selbst diejenigen, die ihn aus eigener Erfahrung kennen leben als Musiker dann in einer Welt, die, wenn auch nicht immer durch Reichtum und Luxus, so doch auf jeden Fall durch die Freiheit von der Routine, der Gleichförmigkeit und den Zwängen der Arbeit in den Fabriken und Werkhallen oder des Schulalltags gekennzeichnet ist. Pete Townshend, einer der wenigen Rockmusiker, der im Laufe der Jahre seinen Status als Musiker realistischer zu sehen gelernt hat, äußerte dazu einmal:

»Pophörer und Popmusiker leben in unterschiedlichen Zeitstrukturen, sie führen völlig verschiedene Leben.«1

Mit anderen Worten: Rockmusiker nehmen die Erfahrungen ihres Publikums niemals spontan und unmittelbar auf, sondern immer gebrochen durch Ideologie, durch eine Sichtweise, die ihrer sozialen Perspektive entspricht, aus ihrem künstlerischen und politischen Selbstverständnis resultiert. Und auch wenn der Umgang mit Rockmusik dann ein relativ selbständiger kultureller Prozeß ist, so vollzieht er sich doch im Bezug auf Spielweisen und Stilformen, Klangstrukturen und visuelle Präsentationskonzepte, die zunächst erst einmal den Wertkriterien der Musiker und den von ihnen intendierten Bedeutungen folgen. Sie spiegeln die Konzeption des Musikers von sich selbst als Künstler ebenso wie die ästhetischen und politischen Ansprüche, die er mit seiner Musik verbindet. So steht hinter der Rockmusik nicht nur ein komplexes Netz kultureller Gebrauchszusammenhänge, sondern auch ein weltanschaulich-politisch vermittelter Reflexionszusammenhang, von dem das Musizieren bestimmt ist — die Ideologie des Rock.

Besonders deutlich wurde das in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, als der Umgang mit Rockmusik von seiten der Musiker, aber auch durch ihr Publikum wesentlich bewußter erfolgte. So veröffentlichten die Beatles 1967 ihr erstes Konzeptalbum, »Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band«2, ein Songzyklus aus hintergründigen Text- und Musikcollagen. 1968 folgte — als Rückseite zu »Hey Jude« »Revolution«3, das erste Mal, daß sie sich in einem Song explizit politisch äußerten, wobei sie zugleich zu erkennen gaben, wie sie ihre eigene gesellschaftliche Rolle als Rockband definierten. Die Rolling Stones brachten wenige Wochen danach auf »Beggar's Banquet« ihr berühmt gewordenes »Street Fighting Man«4 heraus. Mit Pink Floyds »A Saucerful of Secrets«5 erschien 1968 eine Platte, deren ineinanderfließende Klangmontagen die Grenzen des Rock zu sprengen begannen, den vordergründigen Bezug auf Beat und Rhythmus zugunsten komplexerer klanglicher Strukturen und ausgedehnter Improvisationsketten aufgaben. Sowohl in künstlerischer als auch in politischer Hinsicht zeugten diese wie eine Reihe anderer Produktionen von einem erheblich gewachsenen Selbstbewußtsein. Simon Frith schrieb über die Rockmusik der endsechziger Jahre:

»Rock war nun irgendwie mehr als Pop, mehr als Rock'n'Roll. Die Rockmusiker verbanden die Betonung von Handwerk und Technik mit der romantischen Vorstellung von Kunst als individuellem Ausdruck, Originalität und AuFrichtigkeit. Sie behaupteten, nicht kommerziell zu sein — das Selbstverständnis hinter ihrer Musik war tatsächlich nicht, Geld zu machen oder der Nachfrage eines Marktes zu folgen . . . «6

Die Rockmusik war »progressiv« geworden — so jedenfalls umschrieben Musiker wie Journalisten und Fans jene Musik, die sich mit weitreichenden künstlerischen und politischen Ambitionen von der bloß kommerziellen Belieferung des Musikmarktes unterschied. Frank Zappa fand damals die wohl bündigste Formel dafür:

»Wenn man einen einzelnen, wenn man den wichtigsten Trend dieser Musik benennen will, dann muß man es, glaube ich, etwa so sagen: sie ist echt, von den Leuten komponiert, die sie auch spielen, von ihnen geschaffen — sogar, wenn sie sich dafür mit den Plattenfirmen rumzerren müssen —, so daß es wirklich ein kreativer Akt ist, und nicht ein Haufen Scheiße, zusammengeklatscht von Geschäftemachern, die denken, daß sie schon wüßten, was Herr Müller und Herr Schmidt wirklich wollen.«7

Zwischen der Rockmusik, freigesprochen von jedem Verdacht auf kommerzielle Motivation, und dem gewöhnlichen Pop der Hitparaden wurde nun ein scharfer Trennstrich gezogen wobei die in dieser Zeit entstehende professionelle Rockkritik die Legitimation dafür lieferte. Daß sich die Rockmusiker mit einem solchen Selbstverständnis erheblich von den realen Bedingungen ihrer Tätigkeit als Musiker entfernten hatte nicht unwesentlich mit der recht desolaten Situation der Musikindustrie zu tun, der es damals immer noch erhebliche Schwierigkeiten bereitete, mit der Dynamik dieses für sie neuen Marktes zurechtzukommen. Die Rockmusik brachte zwar enorme Steigerungsraten des Umsatzes, aber den Marktstrategen blieb diese Musik ein Buch mit sieben Siegeln. Am besten fuhren sie, wenn sie den Musikern einfach freie Hand ließen, was bei diesen die Illusion nährte, daß sie im Unterschied zum Musiker traditioneller Prägung die Produktion und Verbreitung ihrer Musik unter eigener Kontrolle hätten und zu keinerlei kommerziellen Zugeständnissen gezwungen wären. Als sie dann aber begannen, in ihrer Musik ein Mittel der politischen Auseinandersetzung mit den Herrschaftsstrukturen des Kapitalismus sehen zu wollen, dauerte es nicht lange, bis sich die Musikindustrie mit deutlichen Worten hören ließ. Jac Holzman, Präsident von Elektra Records, einer der drei Säulen des Mediengiganten Warner Communications, erklärte 1919 der Zeitschrift Rolling Stone:

»Ich will hier einmal klarstellen, daß Elektra nicht der nützliche Idiot irgendeiner Revolution ist. Wir meinen, daß die Revolution durch Poesie gewonnen wird, nicht durch Politik —, daß Poeten die Struktur der Welt verändern werden. Die jungen Leute haben diese Botschaft begriffen, und sie haben sie auf der bestmöglichen Ebene begriffen.«8

Die Umsatzbilanzen der Musikindustrie wiesen die »bestmögliche Ebene« künstlerischen Engagements zweifelsfrei aus.

Doch wie illusionär auch immer, das künstlerische und politische Selbstbewußtsein der Musiker in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gab deutlicher denn in jeder anderen Entwicklungsphase des Rock das ideologische Selbstverständnis zu erkennen, aus dem diese Musik gespeist ist. Die Grundstrukturen blieben die gleichen, auch wenn sie sich dann in immer wieder anderer Form ausdrückten. Kreativität, Kommunikation und Gemeinschaft sollten zu Schlüsselbegriffen dafür werden. Das kam nicht von ungefähr, hatte seine Quellen vielmehr in Zusammenhängen, die die Rockmusik sehr nachhaltig geprägt haben: in der amerikanischen Folksong- und Protestsongbewegung und dem hier entwickelten politischen Musikverständnis sowie im intellektuellen Umfeld der britischen Kunstschulen. Beides spielte eine große Rolle für die Formulierung der Ansprüche, von denen aus die Rockmusiker ihre eigene Tätigkeit zu reflektieren begannen, vermittelte ihnen Gesellschafts- und Kunstkonzepte, in die ihr ideologisches Selbstverständnis eingebunden war. Ihre gesellschaftliche Stellung als Musiker, der sozialökonomische Charakter ihrer Tätigkeit, bildete die Grundlage dafür.

Rockmusiker bestreiten ihren Lebensunterhalt davon, daß sie eine Dienstleistung verkaufen, ihre Fähigkeit zum Musikmachen. Deren Inhalt allerdings wird durch die Käufer dieser Leistung, Tonträgerfirmen und Konzertpromoter, bestimmt, denn sie sind es, die die Fähigkeit des Musikers in ein kommerzielles Produkt verwandeln. Die Musiker selbst können immer nur ihre Fähigkeiten anbieten, die Entscheidung liegt bei der Industrie. Aus diesem simplen sozialökonomischen Vorgang entspringt eine bestimmte Betrachtungsweise, ein Blickwinkel, von dem aus die Musiker sich selbst und den Gesamtprozeß der Produktion und Verbreitung des Rock reflektieren. Obwohl die Musikproduktion — wie gezeigt — ein sehr komplexer und in wachsendem Maße kollektiv organisierter Prozeß geworden ist, treten die Musiker darin immer als individuelle Verkäufer einer individuellen Leistung auf. Rockmusik erscheint ihnen deshalb erst einmal als eine Angelegenheit ihrer Individualität. Aus ihrer Perspektive ist das Musizieren kein unter bestimmten Bedingungen gesellschaftlich organisierter Vorgang, der von Plattenfirmen, Promoter und Agenturen kontrolliert wird, sondern in erster Linie die Verwirklichung ihrer Persönlichkeit, Ergebnis ihrer Subjektivität und Emotionalität. Zum anderen bringt sie der ökonomische Status ihrer Tätigkeit in eine merkwürdige Zwitterstellung gegenüber der Industrie. Obwohl sie im ökonomischen Sinne nur das Dienstleistungspersonal für Schallplattenfirmen, Agenturen und Tourneeveranstalter sind, verlangt doch der besondere Charakter ihrer Dienstleistung, daß sie auf einen ganz anderen Adressaten als denjenigen bezogen ist, der sie als Dienstleistung tatsächlich in Anspruch nimmt und bezahlt. In der Funktion, den Lebensunterhalt des Musikers zu sichern, ist das Musizieren ein ökonomisches Verhältnis zwischen ihm und der Musikindustrie, der Natur der Sache nach aber ein Verhältnis zwischen ihm und seinem Publikum. Somit verkauft er der Industrie nicht nur schlechthin seine Fähigkeit zum Musikmachen, sondern diese immer schon im Bezug auf ein bestimmtes Publikum, für das er musiziert. Das läßt ihn in einer Position erscheinen, in der er gegenüber der Industrie zum Repräsentanten seines Publikums wird. Seine persönlichen Vorstellungen, Ideale und Werte spiegelt ihm dieser Zusammenhang als solche seiner Fans, als diejenigen von Jugend im allgemeinen zurück. Er sieht sich als das Sprachrohr der Jugend. In diesen Denkmustern liegt der Schlüssel zur Ideologie des Rock. Die von den Rockmusikern aufgegriffenen Kunst- und Gesellschaftskonzepte sind durch sie auf eine Weise verarbeitet worden, die letzlich immer wieder darauf zurückführt.

Howard Horne und Simon Frith waren es, die darauf aufmerksam gemacht haben, welche Rolle die britischen Kunstschulen, Ausbildungsstätten von bildenden Künstlern, Designern und Werbegrafikern für die Herausbildung der künstlerischen Kriterien und Maßstäbe spielten, die der Rockmusikentwicklung zugrunde liegen:

»Zumindest seit Mitte der sechziger Jahre war jeder Kunstschul-Student ein potentieller Rockmusiker. Die Geschichte der britischen Rockmusik. . . ist die Geschichte der Realisierung dieses Potentials: Künstler nicht nur in Musik und Songs, sondern auch was die Multi-Media-Organisation von Image, Aufführung und Stil betrifft.«9

Tatsächlich kamen nahezu alle stilprägenden britischen Rockmusiker aus diesen künstlerischen Lehranstalten, hatten Designkurse belegt oder das 1961 eingeführte DipAD (Diploma in An and Design) vorzuweisen: sei es John Lennon, der zwischen 1957 und 1959 am Liverpooler College of Art eingeschrieben war, Pete Townshend, der am Londoner Ealing Art College studiert hatte — zur gleichen Zeit wie Ron Wood von den späteren Rolling Stones und Freddie Mercury von den Queen —, sei es Ray Davies von den Kinks, der vom Londoner Hornsey Art College kam Jeff Beck, Gitarrist der Yardbirds, oder Eric Clapton, die beide am Londoner Wimbledon College of Art ausgebildet worden waren, bis hin zu David Bowie und Adam Ant, Absolventen der St. Martin's School of Arts bzw. des Hornsey Art College in London. Von den britischen Kunstschulen gingen auf diese Weise immer wieder Impulse aus, die die künstlerischen Ideen, die Weltsicht und das Musikverständnis der Rockmusiker geformt haben.

Der respektlos zum Jackett verwandelte Union Jack etwa, womit sich in den sechziger Jahren eine Reihe von Musikern zur wandelnden Nationalflagge machten, ist eine offenkundige Adaption der von Jasper John gemalten Flaggenbilder aus der amerikanischen Pop Art, die damals zum Lehrstoff an den Kunstschulen gehörte. Hinter Pete Townshends spektakulären Zerstörungsorgien, die ihm einige Zeit lang jeden Abend seine Rickenbaker-Gitarre, seinen Verstärker und die Boxen kosteten stand ein Kunstkonzept, das am Londoner Ealing College of Art von dem österreichischen Popkünstler Gustav Metzke vertreten und gelehrt wurde: Kunst durch Autodestruktion von Gegenständen. Das geschah beispielweise derart, daß er Säure über Bilder laufen ließ, um aus ihrem Zersetzungsprozeß Kunstobjekte hervorzubringen, die von der Dimension des »Gemachten« befreit sind und trotzdem nicht einfach der platten Realität ihrer Erscheinung verhaftet bleiben. So war die amerikanische Pop Art vor allem in den sechziger Jahren für die britischen Rockmusiker eine ständige Quelle der Inspiration. Pete Townshend erklärte 1967 dem Melody Maker:

»Wir machen Pop Art mit der Standardausrüstung einer Rockband.«10

Doch abgesehen von solchen direkten Einflüssen aus der bildenden Kunst, wozu natürlich auch die Gestaltung von Plattencovers durch namhafte Vertreter der Pop Art gehörte — etwa Peter Blake, der das Cover der Sgt. Pepper-LP entworfen hat, oder Andy Warhol, dem die Rolling Stones das Cover zu ihrer LP »Sticky Fingers« verdanken —, die Kunstschul-Erfahrung lieferte den Rockmusikern vor allem die Grundlagen für ihr künstlerisches und weltanschauliches Selbstverständnis als Musiker. Daß in der Rockmusik, im Unterschied zum traditionellen Popsong, das widerspruchsvolle Verhältnis von Kunst und Kommerz, künstlerischem Anspruch und populärer Kultur reflektiert, zu einer Triebkraft ihrer Entwicklung geworden ist, war ein Ergebnis dessen. Mit dieser Problematik wurden die späteren Rockmusiker an den Kunstschulen schon frühzeitig konfrontiert. Die eigenartige Sonderstellung dieser Schulen innerhalb des britischen Bildungssystems zwang von vornherein dazu, sich mit Blick auf die späteren beruflichen Perspektiven der Frage zu stellen, wie Kunstanspruch und die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, einander vermittelbar sind.

Die britischen Kunstschulen sind mit Stipendien relativ großzügig geförderte Bildungseinrichtungen, die das Ideal der »schönen Künste«, für das es in der kapitalistischen Wirklichkeit längst keinen Raum mehr gibt, bewahren sollen. Im Grunde genommen werden sie von keinem gebraucht, fristen ein Dasein am Rande der Gesellschaft. Selbst eine Spezialisierung für den praxisnahen Designbereich ist kaum mit der Aussicht auf einen Job verbunden. Die Industrie verläßt sich lieber auf den Pragmatismus ihrer Marketingstrategen, als daß sie dem weltverbesserischen Enthusiasmus von Kunstschulabsolventen Raum geben würde. Das allerdings hat diese halbakademischen Bildungsinstitute zu einem einzigartigen kulturellen Freiraum werden lassen, in dem sich, fernab von einem pragmatischen Nützlichkeitsdenken, eine buntscheckige studentische Bohéme versammelte. Keith Richards von den Rolling Stones, der einige Semester die Sidcup Art School in seinem Heimatort Dartfort besucht hatte, es allerdings nie zu einem Abschluß brachte, erklärte später einmal:

»Ich meine, wenn man in England Glück hat, dann kommt man auf die Art School. Hier können sie dich hinstecken, wenn sich woanders nichts findet.«11

Über die Konsequenzen dessen schrieb Dave Marsh:

»Folglich tendierten die Kunstschulen dazu, eine ganze Reihe von Studenten anzuziehen, die intelligent waren, akademischer Fähigkeiten oder Disziplin ermangelten, aber nicht die Geduld hatten, einen Lehrberuf zu erlernen.«12

Die Atmosphäre an den Kunstschulen war damit von intellektuellem Snobismus ebenso beherrscht wie von der Bedrohung, eines dauernden Existenzkrise entgegenzugehen. Ihre Außenseiterposition brachte sie zwangsläufig in Distanz zum Gesellschaftssystem und seinen ökonomischen Machtzentralen, hielt das Bewußtsein für die soziale Verantwortung des Künstlers aufrecht, verführte gleichzeitig aber auch zu einem grenzenlosen Individualismus. Der Anspruch auf soziale und politische Wirksamkeit der Kunstproduktion korrespondierte hier einem kompromißlosen Avantgardismus. Das reichte bis in die Lehrpläne hinein, wo neben den Fine Art-Kursen, die dem traditionellen Konzept von bildender Kunst und einem individualistischen Modernismus verpflichtet waren, Designkurse standen, in denen mit Industrieformgestaltung, Modedesign und Fotografie den künstlerischen Möglichkeiten der modernen Massenkommunikation nachgegangen wurde. Die daraus erwachsende Kunstideologie haben Simon Frith und Howard Horne treffend beschrieben:

»Die Art School-Ideologie fußt auf dem Glaubenssatz, Kunst habe etwas zu sagen, was Unruhe, Bewegung produziere. Kunst konnte ihrer Definition nach kein passives Instrument der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen des Kapitalismus sein: sie mußte ihre zentrale, prägende Stellung im Herzen der Kulturproduktion wiedergewinnen — die Ausdrucksweise der Studenten (und des Rock) der sechziger Jahre machte ausgiebige Anleihen bei der Philosophie der Romantik mit ihrer Betonung von Autonomie und Kreativität und bei den Manifesten der Avantgarde des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. [...] Die Art School-Ideologie gießt die Selbstverliebtheit des Ästheten und die Feinfühligkeit des Avantgardisten für die Macht der Form in einen Stil. Ihr gilt Kunst, auf die Person bezogen, als eine Sache der Individualität, des In-sich-Kehrens, der Besessenheit. Auf die Politik bezogen sucht sie. . . proletarische street credibility (die Solidarität mit denjenigen, die am Rande des Arbeitsmarktes dahinvegetieren) und zugleich den bourgeoisen Mythos der Künstler der Romantik für sich zu reklamieren.«13

Das mußte das Problem in den Mittelpunkt rücken, wie uneingeschränkter Individualismus im künstlerischen Ausdruck und gesellschaftliche Wirksamkeit miteinander verbunden werden können. Kreativität war dafür eine zentrale Kategorie. Sie legitimierte den Individualismus einer Künstlerbohéme, band Kunst an Persönlichkeit, Individualität und Lebensstil, erlaubte zugleich aber auch, darin eine Befreiung des Menschen zu sehen, indem sie seine ihm innewohnenden Potenzen anmahnte. Kreativ zu sein bedeutete, Barrieren niederzureißen, die den Menschen innerlich gefangenhalten, bedeutete Selbstverwirklichung und Freiheit. Kunst erschien als ein Katalysator dafür, sofern es gelang, Kommunikation herzustellen. Das war die zweite wesentliche Ebene der Kunstschulideologie. Sie postulierte ein Ideal von Kommunikation, das darin die unmittelbarste Verbindung zwischen den Menschen sah. Und auch hier wieder ist es die Individualität und Persönlichkeit des Künstlers gewesen; worin der Schlüssel zu dessen Verwirklichung gesehen wurde. Je ehrlicher und sensibler, je »authentischer« der Künstler sich selbst gegenüber ist, desto unmittelbarer die Kommunikation mit seinem Publikum. Das Künstlerbild, das an den britischen Kunstschulen dominierte, war damit nichts anderes als eine Neuauflage der romantischen Kunstphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn sich so viele Kunstschulstudenten gerade von der Rockmusik angezogen fühlten, die in ihnen zugleich ihr aufgeschlossenstes Publikum fand, dann deshalb, weil darin die Chance lag, dieses Künstlerbild zu realisieren, Kreativität zu entfalten und trotzdem zugleich Geld zu verdienen. Die Rockmusik kam außerdem mit ihrer Unmittelbarkeit von Rhythmus und Klang dem angestrebten Kommunikationsideal am nächsten, war eine Quelle für kulturelle Ideen. Vor allem aber bot sie eine Möglichkeit, auf der Grundlage der modernen Massenkommunikation Kunst, Musik, Design, Mode und Jugend zu einer einzigen großen Erfahrung zu vereinigen. Daher auch der antikommerzielle Anspruch des Rock. Es war durchaus ehrlich gemeint, wenn Pete Townshend 1965 behauptete:

»Was wir mit unserer Musik versuchen, ist, gegen den kommerziellen Mist zu protestieren, die Hitparade vom Schlamm zu reinigen.«14

Das individualistische Künstlerbewußtsein, das der Rockmusik aus den britischen Kunstschulen überliefert worden war, vertrug sich nicht mit der kommerziellen Standardisierung von Musik zu einem auf die Nachfrage des Musikmarktes abgestimmten Massenprodukt. Rockmusik hatte ehrlich zu sein, unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit und Individualität des Musikers. Simon Frith bemerkte treffend dazu:

»Das Urbild der Rockmusik ist der Star-Gitarrist, der mit zurückgeworfenem Kopf und verzerrtem Gesichtsausdruck sein ganzes Gefühl sichtbar in die Fingerspitzen verlegt.«15

Hinter der Kritik am Kommerz, worin der Gegenpol zu Kreativität und Kommunikation gesehen wurde, stand die romantische Berufung auf die Autonomie des Künstlers, ein Ideal von Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Unmittelbarkeit. Die Art und Weise, wie das der amerikanische Rockkritiker Jon Landau formulierte, ist charakteristisch dafür:

»Innerhalb der Grenzen der Medien artikulierten diese Musiker Haltungen, Stil und Gefühle, die unmittelbare Reflexionen ihrer eigenen Erfahrungen und der sozialen Situation, in der sie diese Erfahrungen gemacht haben, darstellten.«16

Im Selbstverständnis der Rockmusiker dominierte die Vorstellung, Musik sei das unmittelbare Ergebnis ihrer besonderen individuellen Subjektivität und Emotionalität, eine kreative Offenbarung der inneren psychischen Wesenskräfte des Menschen, die freizusetzen zugleich von den Deformationen und Frustrationen befreie, die die Zwänge des Alltags hinterlassen haben. Jimi Hendrix drückte es mit folgenden Worten aus:

»'Cosmic Music' machen wir, kosmische Musik. Oder 'Ego-Free-Music', Musik, um das Ich zu befreien.«17

Daß die Rockmusik während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in wachsendem Maße als ein Klangraum verstanden war, sich öffnete für neue klangliche Erfahrungen, die zum Teil weit von ihren musikalischen und kulturellen Ursprüngen wegführten, Anregungen aus außereuropäischen Musikkulturen ebenso einbegriff wie das den Rahmen der Songform sprengende Experiment mit Elektronik und Aufnahmetechnik, hatte wesentlich damit zu tun. Auf der Suche nach immer neuen Möglichkeiten, Kreativität freizusetzen, in die innersten Schichten des Bewußtseins und die letzten Tiefen des Unterbewußtseins vorzudringen, sind alle bis dahin geltenden musikalischen Grenzlinien, die die Popmusik von anderen Bereichen der Musikkultur abhoben, überwunden worden. An die Stelle der vorwärtstreibenden Motorik des beat trat ein Musizieren im Zeichen der vibrations, des harmonischen Zusammenklangs von Körper, Gefühl, Bewußtsein und Musik. Klang war darin als eine Art materialisiertes Bewußtsein aufgefaßt, die Erweiterung der klanglichen Räume, die per Musik durchschritten wurden, als Bewußtseinserweiterung, aus der neue Sichtweisen und Handlungsperspektiven entspringen sollten. Es ging darum, aus Musik, Licht, Zeit- und Körpergefühl eine totale Erfahrung zu schaffen, in der Kunst und Leben zu einer Einheit verschmolzen. Je kreativer das Musizieren, desto unmittelbarer die Kommunikation mit dem Publikum und desto geringer die Kompromisse an den Kommerz — so ein weitverbreitetes Denkmodell jener Jahre. Der künstlerische Anspruch, der damit geltend gemacht war, zielte auf eine gesellschaftliche Wirksamkeit des Musizierens, die den »progressiven« Rock von der als »kommerziell« deklarierten gewöhnlichen Popmusik zu scheiden begann. Rock wurde selbst zur ideologischen Kategorie, denn der postulierte Gegensatz von »kommerzieller« und »progressiver« Musik war vor allem eine Angelegenheit des Selbstverständnisses der Musiker. In Wirklichkeit ist die sich als »progressiv« verstehende Rockmusik natürlich nicht weniger dem kapitalistischen System der Produktion und Verbreitung von Musik verpflichtet gewesen als ihr »kommerzielles« Gegenbild. Beide Adjektive fungierten als Wertbegriffe, die eigentlich viel mehr über ihre Benutzer als über die damit etikettierte Musik verrieten. 1968 machte sich das die Plattenfirma Columbia des CBS-Konzerns zunutze, indem sie unter dem Schlagwort »Revolutionäre des Rock« eine Promotionkampagne auf der Suggestivkraft des Adjektivs »progressiv« aufbaute. Richard Neville berichtete darüber:

»Das 'Revolutionaries'-Programm der Columbia Records . . . ist im Verlauf des April entsprechend der Marktlage erweitert worden. Der erstaunliche Erfolg des Programms zwang das Label, die Kampagne fortzusetzen, die sich als eine der erfolgreichsten in der Geschichte von Columbia erwies und selbst den Erfolg der 'Rock Machine'-Promotion des vorangegangenen Jahres noch übertraf. Das 'Revolutionaries'-Programm war ein umfassendes Verkaufskonzept für Columbias Rockalben und wurde als Abschußrampe für eine Reihe bemerkenswerter zeitgenössischer Künstler benutzt, die in den davorliegenden drei Monaten auf Columbia debütiert hatten.«18

Dazu gehörten unter anderem Janis Joplin, Santana, Blood, Sweat & Tears, Chicago und Leonard Cohen. Zugpferd dafür war allerdings der schon seit 1962 an das Label gebundene Bob Dylan. Von ihm gingen auch die wichtigsten Impulse für ein Rockverständnis aus, das sich in politischen Zusammenhängen vermittelte und deshalb mit dem Anspruch auftrat, »progressiv« zu sein.

Dylan hatte 1961 als Interpret von Folksongs in der Tradition des legendären amerikanischen Sängers und Arbeiterdichters Woody Guthrie begonnen. Seine Verbindung mit Susan Rotolo, hauptamtliche Sekretärin des Congress of Racial Equality (CORE), brachte ihn 1962 in Kontakt mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA, die sich mit dem Kampf gegen die Rassentrennung in Bussen, Schulen, Wartehallen und Restaurants für eine Verwirklichung der in der amerikanischen Verfassung verbrieften Rechte, unabhängig von Hautfarbe und sozialer Herkunft, engagierte. Sie wurde schnell zum Sammelbecken all jener, die nach den konservativen fünfziger Jahren mit dem amerikanischen Kapitalismus abzurechnen begannen. Im April 1962 schreibt Bob Dylan »Blowin' In the Wind«19, womit er der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eine Art Hymne schuf, die ihn zum politischen Protestsänger werden ließ. Im August 1963 steht er neben Martin Luther King an der Spitze von 200.000 Menschen, die mit einem »Großen Marsch auf Washington« das Ende der Rassendiskriminierung fordern. Dylan wird zur Symbolfigur des Protests. Die Fronten dieser Auseinandersetzung liefen quer durch alle sozialen Gruppen und Schichten, vor allem aber verliefen sie zwischen den Generationen — ein Konflikt, der sich ausweitete, als die Johnson-Administration sich anschickte, die männliche Jugend des Landes für einen ebenso sinnlosen wie unmenschlichen Krieg in Vietnam zu opfern. Bob Dylan, mit ihm Joan Baez, Phil Ochs, Tom Paxton wurden dieser Generation amerikanischer Jugendlicher zum Sprachrohr. Anthony Scaduto, Dylans Biograph, schrieb dazu:

»Es lag wenigstens zum Teil an Dylan, daß es im Land, bald Hunderttausende von Freaks gab, die ein Leben außerhalb der etablierten Gesellschaft zu führen versuchten. . . , entschlossen, sich nicht in den Fußangeln der sogenannten Zivilisation zu verfangen. Dylans Einfluß ist spürbar in jenen, die das System in Frage stellen, indem sie ihre Mitarbeit verweigern oder es frontal angehen. . . Marcuse, Hesse, Fanon, Sartre, Camus, Proudhon und andere lieferten die Ideologie. Doch von Dylan kam der emotionale Drive, der das alles durchschlagen ließ.«20

Seine Lieder schlossen die Teilnehmer von Teach-Ins, Sit-Ins, die Akteure des Free Speech Movement an den amerikanischen Universitäten und die nach Hunderttausenden zählenden Demonstranten der Anti-Vietnamkriegs-Manifestationen zu einer einzigen großen Gemeinschaft zusammen, gaben den unterschiedlichen Gruppierungen dieses heterogenen Spektrums einer »Neuen Linken« etwas Verbindendes. Aus dieser gemeinschaftsbildenden Kraft bezogen seine Lieder ihre politische Wirksamkeit. Was lag da näher, als aus dieser Perspektive auch nach dem politischen Potential der Musik der Beatles, der Rolling Stones, der Who und der anderen britischen Gruppen zu fragen, die ab 1964 die USA im Sturm eroberten und noch weit mehr Jugendliche hinter sich vereinten. Mußte nicht darin eine noch viel größere Sprengkraft liegen als mit den kargen Akkorden auf der akustischen Gitarre erreichbar war? Bob Dylan zog aus dieser Überlegung 1965 auf dem Newport Folk Festival, dem alljährlichen Wallfahrtsort der Folkmusicgemeinde, unter Pfiffen und Buhrufen seiner angestammten Fans die Konsequenz, schloß seine Gitarre an einen Verstärker an und ließ sich von der Paul Butterfield Bluesband mit rockigen Rhythmen begleiten. Die Reaktion seiner Anhängerschaft brachte unmittelbar danach der Folkmusiker Theodore Bikel in einem Leserbrief an die Zeitschrift Broadside, dem Magazin der amerikanischen Folksongbewegung, in dem lakonischen Satz zum Ausdruck:

»In der Kirche pfeift man nicht, und auf einem Folkfestival spielt man keinen Rock'n'Roll.«21

Doch hat Dylan damit einen Weg gewiesen, dem nicht nur viele ehemalige Folkmusiker gefolgt sind, sondern der die Rockmusik in Zusammenhänge hineingestellt hat, in denen ihre Entwicklung nun mehr und mehr auch politischen Kriterien folgte.

Seitens der politischen Linken war der Rock als Form der kommerziellen Massenkultur bis dahin auf einhellige Ablehnung gestoßen. Die Argumentation hierzu hatte schon 1963 der britische Daily Worker vorgegeben, der sich angesichts der damals gerade einsetzenden »Beatlemania« in einer Reportage aus Liverpool mit den Beatles beschäftigte. Es heißt darin:

»Die Beatles mögen der Stolz der Merseyside sein, aber es ist einfach für die Talentesucher, die nach Jobs jagenden Jugendlichen auszubeuten, indem sie den Traum von schnellem Ruhm und Geld nähren.«22

Daß diese Musik ihre Wurzeln irgendwie im realen Alltag der britischen Arbeiterjugendlichen hatte, statt von geschäftstüchtigen Songschreibern kreiert worden zu sein, war nicht wegzudiskutieren, was freilich nichts daran änderte, in ihr doch nur eine besonders raffinierte Finte des Kapitals zu sehen. Am deutlichsten hat das wohl Charles Parker formuliert, als er mit Bezug auf die britische Rockmusik schrieb,

».. daß der Pop jetzt durch die herrschende Klasse als einzigartige Form der sozialen Kontrolle gehätschelt wird.«23

Der politischen Linken galt die Rockmusik lange Zeit nur als ein unappetitlicher Ausdruck der ideologischen Verführungskraft des Kapitals, wobei es besonders schmerzte, daß ein unübersehbar zur sozialen Massenbewegung gewordenes Kulturphänomen das sinnliche Vergnügen in Tanz und Musik so rückhaltlos über den klassenkämpferischen Ernst politischer Bewußtheit triumphieren ließ. Diese Sicht änderte sich nun, ausgelöst durch den spektakulären Übertritt Bob Dylans zum Rock und angesichts der Tatsache, daß in den USA diese Musik auf die gleiche Generation Jugendlicher traf, als deren legitimierte Wortführer sich die Aktivisten der Protestsongbewegung sahen. Wenn die Hoffnung Amerikas auf seiner Jugend liegen sollte, wie Bob Dylan es in seinem Song »The Times They Are A-Changin'«24 so emphatisch formuliert hatte, einer Jugend, die sich immer radikaler politisierte, dann ging es nicht an, deren Rockbegeisterung auf der anderen Seite weiterhin derart undifferenziert als kommerziell organisierte ideologische Vereinnahmung durch das Kapital zu sehen. Die Protestsongs hatten die Erfahrung der gemeinschaftsbildenden Kraft von Musik gebracht, die sich letztlich als stärker erwies als der manipulative Einfluß der Medien, durch die hindurch sie die Massen der amerikanischen Jugendlichen erreicht hatten und zu einer materiellen Gewalt geworden waren, die sich in den immer größer werdenden Demonstrationszügen manifestierte. So wurde der Rockmusik ihre Abhängigkeit von den Medien und die naive politische Sprachlosigkeit ihrer Texte nicht länger zum Vorwurf gemacht. Die politische Wirksamkeit des Rock sollte auf einer anderen, weniger greifbaren, dafür aber auch schwerer zu kontrollierenden Ebene liegen. Jann Wenner, der 1967 die Zeitschrift Rolling Stone, seinerzeit das Sprachrohr der »progressiven« Rockmusik, gegründet hatte, formulierte es so:

»Die Rockmusik ist das Energiezentrum aller Arten von Veränderung, die sich rapide um uns entfalten: sozial, politisch, kulturell oder wie immer man es beschreiben will. Tatsache ist, daß für viele von uns, die nach dem zweiten Weltkrieg aufwuchsen, der Rock den ersten revolutionären Einblick in uns selbst lieferte, wer wir sind und woran wir sind in diesem Land.«25

Die Rockmusik erschien nun als ein Zeitzünder, der inmitten der Herrschaftsmechanismen lautstark tickte. Sie galt als die Energie, die den Motor der gesellschaftlichen Veränderung zum Laufen bringen konnte, die Batterien der gesellschaftlichen Phantasie auflud. Der ästhetische Radikalismus, mit dem sich die Rockbands gegenüber den im Musikgeschäft vorherrschenden Normen des traditionellen Hitparaden-Pop zu behaupten suchten, war jetzt als ein Zeichen des Protests verstanden. Robert Sam Anson schrieb 1968 in einem Aufsatz für das Nachrichtenmagazin Times, daß die Rockmusik

». . . nicht nur eine besondere Form des Pop ist, sondern . . . eine lange Symphonie des Protests. . ., die Proklamation eines neuen Kanons von Werten. . . , die Hymne der Revolution.«26

Der Protestcharakter, der damit im musikalischen Erscheinungsbild des Rock gesehen wurde, suspendierte ihn von einer klaren politischen Stellungnahme in seinen Texten. Die Kraft dieser Musik lag in ihrer sinnlichen Wirksamkeit. John Sinclair, als ehemaliger Jazzkritiker einer der publizistischen Wortführer der Protagonisten des »progressiven« Rock, zugleich Manager der Detroiter Rockband MC5, erklärte das mit den folgenden Worten:

»Rock ist die revolutionärste Kraft in der Welt — sie vermag die Menschen zurück zu ihren Sinnen zu schleudern, und diese Musik bewirkt, daß sich die Menschen gut fühlen. Und genau das ist es, was die Revolution ausmacht. — Wir müssen auf diesem Planeten einen Zustand schaffen, wo sich jeder Mensch zu jeder Zeit wohl fühlen kann. Und wir werden nicht eher ruhen, bis dieser Zustand erreicht ist. Rock ist eine Waffe der kulturellen Revolution.«27

Hinter solchen Positionen, die der Rockmusik ein politisches Ambiente aus Protest, Revolution und progressiver Weltverbesserungsansprüche verpaßten, stand ein Konfliktpotential, das die Bürgerrechtsbewegung in den USA und dann vor allem der Vietnamkrieg hatten heranreifen lassen. Insbesondere die studentische Jugend sah sich darin einer Situation gegenüber, die zum politischen Radikalismus provozierte. Das ihnen an den Universitäten vermittelte Gesellschaftsbild kollidierte derartig massiv mit der brutalen Realität des Vietnamkrieges, auf Millionen von Fernsehschirmen allabendlich dokumentiert, daß sich eine radikale Kapitalismuskritik daraus entwickelte. Die Studenten agierten aus einer Betroffenheit heraus, die sie dazu verleitete, in sich selbst eine soziale Kraft zu sehen, die zur Veränderung der Gesellschaft berufen und in der Lage ist. In ihrem Revolutionsmodell trat an die Stelle des revolutionären Klassenbewußtseins der Altlinken ein Generationsbewußtsein, das durch die Rockmusik eine scheinbare Realität erhielt. Die damit verbundenen Ansprüche an die Rockmusik spiegelten sich nirgends deutlicher als in einem Manifest, mit dem die Rolling Stones während ihrer ersten USA-Tournee 1967 in San Francisco durch eine Gruppe von Studenten empfangen wurden. Es heißt darin:

»Seid willkommen und gegrüßt, Rolling Stones, unsere Genossen in der verzweifelten Schlacht gegen die Wahnsinnigen, die an der Macht sind. Die revolutionäre Jugend der Welt hört eure Musik: sie erfüllt sie mit Begeisterung für weitere, noch tödlichere Taten. Wir führen einen Partisanenkampf gegen die Invasion der Imperialisten in Asien und Lateinamerika, wir empören uns überall auf Rockkonzerten. . . Sie nennen uns Ausgeflippte und Kriminelle und Aussteiger und Punks und Wirrköpfe und schütten tonnenweise Scheiße über unsere Köpfe. In Vietnam werfen sie Bomben auf uns, und in Amerika versuchen sie uns zum Krieg gegen unsere eigenen Genossen aufzuhetzen, aber die Bastarde hören, wie wir eure Musik aus unseren Kofferradios klingen lassen; und sie werden dem Blut und Feuer der anarchistischen Revolution nicht entkommen.

Wir werden eure Musik mit Rock'n'Roll-Marschkapellen spielen, ebenso wie wir die Gefängnisse abreißen und die Gefangenen entlassen, die staatlichen Schulen beseitigen und die Studenten befreien, die Militärbasen zerstören und die Armen bewaffnen werden. . ., um eine neue Gesellschaft aus der Asche unserer Feuer auferstehen zu lassen.

Kehrt zurück, Genossen, in dieses Land, wenn es von der Tyrannei des Staates befreit ist, und ihr werdet eure Musik in Fabriken spielen, die von Arbeitern geleitet werden, in den Festsälen der leeren Rathäuser, unter den hängenden Körpern der Geistlichen, unter Millionen roter Fahnen, die den Millionen anarchistischen Kommunisten entgegenwehen. . . Rolling Stones! Die Jugend Kaliforniens hört eure Botschaft! Es lebe die Revolution!«28

Rockmusik ist hier in einen Zusammenhang gestellt, in dem sie sich nun nicht mehr nur in musikalischen, sondern auch in politischen Kategorien definierte, wie illusionär diese auch gewesen sein mögen. Unterschied sie sich bis dahin im Selbstverständnis von Musikern wie Fans vom kommerziellen »Plastic Pop« der Schlagersänger vor allem durch ihre emotionale Unmittelbarkeit, die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit der Gefühle, die in sie hineingelegt waren, so wurde sie jetzt als Träger und Ausdruck eines Generationsbewußtseins aufgefaßt, das der politische Aktivismus der Studenten mobilisiert haben wollte. Vor diesem Hintergrund sollte die Rockerfahrung in erster Linie eine Erfahrung der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit sein, die die Jugendlichen aus ihrer Isolation in der Familie, der Schule, am Arbeitsplatz oder in den Universitäten herausriß und ihnen ihre Frustrationen als solche ihrer ganzen Generation spiegelte. Unter den kraftvollen Rhythmen und lautstarken Klängen des Rock würden sie zu einer sozialen Kraft zusammengeschweißt, die imstande wäre, die Gesellschaft zu sprengen. Oder wie es Greil Marcus formulierte:

»Wir kämpfen uns unseren Weg durch den massierten und begrenzten kollektiven Geschmack der Top 40 hindurch, nur um etwas zu finden, das wir unser eigen nennen können. Doch wenn wir es gefunden haben und uns ans Radio klemmen, um es wieder zu hören, dann ist es nicht bloß unser eigenes — es ist eine Verbindung zu Tausenden anderen, die es mit uns teilen. Bezogen auf den einzelnen Song mag das nicht viel bedeuten, als Kultur aber, als eine Weise zu leben, ist es unschlagbar.«29

Daß die Rockmusik einen Erlebnisraum darstellt, der die Jugendlichen über alle sozialen Unterschiede hinweg sich als Gemeinschaft erfahren läßt, war freilich ebensosehr eine Illusion wie die politischen Hoffnungen, die sich daran knüpften. Doch im Selbstverständnis der Musiker sollte dieses Moment trotz allem eine entscheidende Rolle zu spielen beginnen. Es stellte das Musizieren unter das Postulat eines Gemeinschaftserlebnisses und lieferte ihm einen politischen Anspruch, ohne den die Rockmusik — wie vordem schon der Rock'n'Roll — sehr schnell zu einer konfektionierten Massenware nach dem Maß des Hitparadenpop geworden wäre. Vor allem aber lag darin der konzeptionelle Schlüssel, um die künstlerischen Ambitionen der Musiker in einen Zusammenhang zu bringen, der kommerziellen Erfolg nicht ausschließt, die künstlerische Leistung aber trotzdem nicht an der Höhe der zurückfließenden Tantiemen bemißt.

Hinter dem Konzept einer »progressiven« Rockmusik stand das Problem, kommerziellen Erfolg und die künstlerischen Ansprüche der Musiker irgendwie auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu müssen. Daß sich die Rockmusiker einem Ideal von Kommunikation und Kreativität verpflichtet fühlten, das das Musizieren erst einmal zur Verwirklichung ihrer eigenen Persönlichkeit machte, statt nur einem kommerziellen Kalkül zu folgen, bedeutete keineswegs den Verzicht auf ein Massenpublikum oder auch nur das Infragestellen von Massenerfolg. Trotz der antikommerziellen Intentionen blieb auch in ihrem Selbstverständnis massenhafte Wirksamkeit die Basis und der Gradmesser für künstlerischen Erfolg. Manfred Mann hat das einmal sehr klar formuliert:

»Die Popmusik ist wahrscheinlich die einzige Kunstform, die in ihrem Erfolg vollständig vom allgemeinen Publikum abhängig ist. Je mehr Leute eine Platte kaufen, desto erfolgreicher ist sie — nicht nur kommerziell, sondern auch künstlerisch.«30

Wenn aber der Bezug auf ein Massenpublikum nicht mit kruden Marktkriterien legitimiert sein sollte, dann bedurfte es eines Kriteriums, das künstlerischen Anspruch und kommerziellen Erfolg einander vermitteln konnte. An diese Stelle trat das Postulat einer durch Musik vermittelten Gemeinschaftserfahrung, wie es sich im Umfeld des politisch motivierten Umgangs mit Rockmusik in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre herausgebildet hatte. Im kommerziellen Erfolg drückte sich so nicht mehr eine Anpassung an den Musikmarkt aus, sondern vielmehr die künstlerische Realisierung dessen, was die Rockgemeinschaft miteinander verband. Das freilich war ein ideologisches Kriterium mit einer immanenten Zirkelschlüssigkeit, die es jeder Kritik entzog. In der Rockmusik wurde jetzt der Ausdruck einer Gemeinschaft gesehen, die sie selbst erst hergestellt hatte, indem sie kommerziell erfolgreich war. Rockmusik, die, ohne Kompromisse einzugehen, nur den persönlichen Vorstellungen der Musiker folgt und deshalb »authentisch« ist, galt als Spiegel von Erfahrungen, die allen Jugendlichen gemeinsam sind, sofern sie kommerziellen Erfolg für sich verbuchen konnte. Das Paradoxon, mit einer Musik Gemeinschaft zu repräsentieren, die durch die Individualität des Musikers, die kreative Verwirklichung seiner Persönlichkeit getragen ist, verdrängte ein unerschütterlicher Glaube an die Gemeinsamkeit von Musikern und Fans — die Grundlage der Ideologie des Rock.

Damit stand die Rockmusik nun in einem entwickelten argumentativen Reflexionszusammenhang, der sich um die Begriffe Kreativität, Kommunikation und Gemeinschaft aufbaute und den Musikern zum Rahmen für die Bestimmung ihrer eigenen Tätigkeit, ihrer Rolle in der Gesellschaft und ihres Verhältnisses zum Publikum geworden ist. In dem politisierten Klima der sechziger Jahre konzentrierte sich das naturgemäß erst einmal um ihr politisches Selbstverständnis. Von hier aus bestimmte sich der Anspruch ihrer Musik auf gesellschaftliche Wirksamkeit, bekamen ihre künstlerischen Vorstellungen einen konkreten Realitätsbezug.

Wie dieser aussah und politisch formuliert wurde, haben die Beatles mit ihrem Song »Revolution«31 dokumentiert, der zudem eine umfassende Debatte darüber auslöste:

You say you want a revolution
Well you know
we all want to change the world
You tell me that it's evolution
Well you know
We all want to change the world
But when you talk about destruction
Don't you know that you can count me out
Don't you know it's gonna be alright
Alright, alright

You say you got a real solution
Well you know
We'd all love to see the plan
You ask me for a contribution
Well you know
We're doing what we can
But when you want money for people with minds that hate
All I can tell you is brother you have to wait
Don't you know it's gonna be alright
Alright, alright

You say you'll change the constitution
Well you know
We all want to change your head
You tell me it's the institution
Well you know
Your better free your mind instead
But if you go carrying pictures of Chairman Mao
You ain't going to make it with anyone anyhow
Don 't you know it's gonna be alright
Alright, alright

Das war eine klare und unmißverständliche Absage an den politischen Aktivismus der Studenten. Dahinter stand eine Weltsicht, die die Gesellschaft auf den einzelnen projizierte und in ihm, in seinen Deformationen die Ursache aller Probleme sah. Sofern sich die Menschen nicht ändern, würden auch alle Veränderungen der Gesellschaft nichts bringen. Es gelte den Menschen, sein Bewußtsein zu revolutionieren, und dann »wird alles schon irgendwie hinkommen« — so das reichlich verschwommene Credo dieses Songs. Der Text war von einer Position aus formuliert, die sich weder die Musik als politisches Instrument zur Gesellschaftsveränderung noch die Autonomie des Künstlers streitig machen lassen wollte. Für die Rockmusik ergab sich daraus, daß sie die Frustrationen und Entfremdungserscheinungen des alltäglichen Kapitalismus zum Ausdruck bringen müsse, um sie den Möglichkeiten eines kreativen Lebens gegenüberzusetzen. Die sinnliche Gewalt des Rock sollte die Kraft sein, die die verkrustete Lebenswirklichkeit tatsächlich aufzubrechen imstande sei. John Lennon erklärte dazu:

»Wir wollen die Leute nicht trösten, nicht dafür sorgen, daß sie sich besser fühlen, sondern. . . ihnen dauernd die Erniedrigungen und Entwürdigungen vorsetzen, die sie auf sich nehmen, um das zu erhalten, was sie das Existenzminimum nennen.«32

Darin schwingt mit, daß es ihre eigenen Wertvorstellungen sind, die die Menschen zu Gefangenen eines Systems werden lassen, das mit Entfremdung und Frustration ihr Leben deformiert. Roger Waters von Pink Floyd hat das am deutlichsten ausgesprochen:

»Vielen Leuten wird das ganze Leben gestohlen, weil sie im System gefangen sind. Sie werden gebraucht, um Volkswagen zu produzieren. Die Leute werden für ihre Arbeit bezahlt, kaufen Fernseher, Kühlschränke und glauben, dies wiegt auf, daß sie ihr ganzes Leben damit verbringen, Autos zusammenzubauen. 48 von 52 Wochen leben sie diesen Trott.«33

Sie aus dieser Gefangenschaft zu befreien setze voraus, ihr Bewußtsein, ihre Erfahrungsräume und ihre Sensibilität zu erweitern, ihrem Leben neue Dimensionen zu vermitteln, weil nur damit ein System zu sprengen sei, daß von ihren Deformationen lebt. Nicht die Gesellschaft, das »System« formt die Menschen, die es zu seiner Aufrechterhaltung braucht, sondern die Menschen schaffen sich das System, das ihren Bedürfnissen entspricht. Das ist nichts anderes, als die folgerichtige Konsequenz aus einem Individualismus, der die Welt aus der Perspektive des einzelnen betrachtet. So gesehen, mußte jede politische Aktion wie eine systemimmanente Reaktion auf Probleme erscheinen, die auf diese Weise zwar in neue Zusammenhänge gebracht nicht aber gelöst würden. Mick Jagger von den Rolling Stones erklärte unumwunden:

»Ich rebelliere gegen überhaupt nichts. Ich will nicht zu diesem System gehören, aber das hat nichts mit Rebellion zu tun.«34

Dem ist nicht einmal zu widersprechen. Den Heimtücken des Kapitalismus dadurch zu entgehen, daß man auf Fernseher und Kühlschränke verzichtet, um sich zur Bewußtseinsbefreiung den Segnungen der Giganten der Elektronikindustrie und den Medienkonzernen zu überlassen, hat tatsächlich nichts mit Rebellion und noch weniger mit Revolution zu tun.

Die Antwort auf das »Revolution« der Beatles, die hier die Linke ja direkt angesprochen hatten, erfolgte dann auch prompt; und zwar durch John Hoyland, der in der marxistischen Zeitung Black Dwarf, der publizistischen Plattform der Studentenbewegung Großbritanniens, einen offenen Brief an John Lennon veröffentlichte. Darin hieß es:

»Was uns gegenübersteht, das sind nicht bösartige Menschen, Neurosen oder geistige Unterernährung. Wir sind mit einem repressiven, heimtückischen und autoritären System konfrontiert; einem System, das inhuman und unmoralisch ist. . . Es muß zerstört werden, erbarmungslos. Das ist nicht Grausamkeit oder Verrücktheit; es ist vielmehr eine der leidenschaftlichsten Formen der Liebe. . . Liebe, die sich nicht gegen das Leiden, die Unterdrückung und die Erniedrigung engagiert, ist fade und irrelevant.«35

Lennon reagierte mit einem »sehr offenen Brief«, der ein Vierteljahr später an gleicher Stelle veröffentlicht wurde und neben der sichtlichen Verärgerung über den öffentlichen Angriff auf seine Person als dem Urheber des »Revolution«-Songs seine Position noch einmal verdeutlichte. Er schrieb an John Hoyland:

»Es ist mir egal, was Du, die Linke, die Mitte, die Rechte oder irgendein abgewichster Männerverein denken. So bürgerlich bin ich nicht, um mir daraus etwas zu machen . . . Ich will Dir sagen, woran die Welt krankt: an den Leuten — und die willst Du vernichten? Erbarmungslos? Ohne daß Du/wir in unseren Köpfen etwas verändern, gibt es keine Chance. Nenn mir eine erfolgreiche Revolution. Wer hat denn alles abgewichst, den Kommunismus, das Christentum, den Kapitalismus, den Buddhismus etc. — kranke Köpfe und nichts anderes.«36

Die Entrüstungsstürme, die »Revolution« bei Erscheinen der Single Ende August 1968 auslöste, hatten Lennon übrigens unabhängig von dieser Auseinandersetzung zuvor trotzdem schon zu einer bezeichnenden Veränderung seines Textes veranlaßt, als der Song nämlich ein zweites Mal für die Doppel-LP »The Beatles«37 aufgenommen wurde, die wegen des fehlenden Coverbildes auch als »White Album« bekannt geworden ist. Dem Don't you know that you can count me out der Erstfassung fügte er hier noch ein in an, so daß diese Zeile nun lautete: Don't you know that you can count me out/in. Das war nicht frei von Opportunismus, denn damit überließ er es seinem Hörer, sich die ihm genehme Version herauszusuchen. In der autorisiert gedruckten Textfassung fehlt dieser Zusatz dann allerdings wieder. In einem Interview erläuterte er dazu:

»Ich habe beides genommen, weil ich mir nicht sicher war.«38

Doch davon abgesehen, die Stellungnahme Lennons in der Auseinandersetzung um diesen Song spiegelt deutlicher noch als der Text selbst die individualistische Sicht der Welt aus der Perspektive des Rockmusikers. Ihre Realitätsaneignung erfolgt durch das Prisma eines individualistischen Künstlerbewußtseins, und das läßt sie die Probleme der Welt als ein Resultat der Probleme des einzelnen sehen. Genauer hinterfragt, erwies sich das von geradezu erschreckender Naivität. Während einer jener spektakulären Friedensaktionen von John Lennon und Yoko Ono, ihren Bed-Ins — der publicityträchtigen Demonstration für Frieden und Liebe im Bett —, wurden sie von einem Interviewer mit der Frage provoziert, ob sie denn meinten, auch Hitler und den Faschismus mit Musik und Liebe hätten verhindern zu können. Es war das gleiche Bed-In, bei dessen Gelegenheit John Lennons »Give Peace a Chance«39 in ihrem Hotelzimmer mit den um ihrer beider Bett versammelten Freunden und Presseleuten aufgenommen wurde — im Mai 1969 im Queen Elizabeth Hotel in Montréal. Yoko Ono beantwortete die Frage mit folgenden Worten:

»Wenn ich ein jüdisches Mädchen während der Hitler-Ära gewesen wäre, ich hätte mich ihm angenähert und wäre seine Freundin geworden. Nach zehn Tagen im Bett wäre er meiner Weise zu denken gefolgt. Diese Welt braucht Kommunikation. Und Liebe zu machen ist eine der besten Formen der Kommunikation.«40

Das spricht für sich. Aber es erklärt die gewaltige Überschätzung der gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten von Musik, die hinter der Rockentwicklung und den Konzepten, mit denen hier musiziert wurde, stand. Kommunikation, ein Mythos von geradezu magischer Kraft, sollte imstande sein, die Menschen von innen her aufzuschließen, sie frei zu machen und zu ihrer eigenen Kreativität zurückzuführen — das sei der Weg zu einer wirklichen Veränderung der Gesellschaft. Die Gemeinschaftlichkeit der Rockerfahrung und die sinnliche Unmittelbarkeit dieser Musik machte sie zum geeignetsten Mittel dafür.

Auch die Rolling Stones haben damals mit »Street Fighting Man«, dessen Text sie der Zeitschrift Black Dwarf zur Veröffentlichung als Diskussionsbeitrag zuschickten, in diese Auseinandersetzung eingegriffen, wobei sie den Aktivismus von Demonstrationen und Straßenschlachten nicht minder offen als die Beatles in Frage stellten. Sie setzten dem eine Position entgegen, die die Rockmusik, das »Singen in einer Rock'n'Roll-Band« zur Alternative erklärte:41

Ev'rywhere I hear the sound of marching charging feet, oh boy
'Cause summer's here and the time is right for fighting in the street, oh boy
But what can a poor boy do
Except to sing for a rock'n'roll band
'Caurs in sleepy London town
There's just no place for street fighting man
No

Hey ! Think the time is right for a place revolution
But where I live the game to play is compromise solution
Well, then what can a poor boy do
Except to sing for a rock'n'roll band
'Cause in sleepy London town
There's just no place for street fighting man
No

[...]

Diese Haltung war insofern etwas differenzierter, weil hier nicht mit dem generalisierenden Anspruch des »Revolution«-Songs der Beatles aufgetreten, sondern nur geltend gemacht wurde, daß die Zeiten nicht danach seien, um mit Straßenkämpfen die Welt zu verändern. Doch im Ergebnis lief es auf das gleiche hinaus — Rockmusik als das eigentliche Instrument der Revolution. Auch das blieb nicht unwidersprochen. Jon Landau kommentierte damals:

»Die Stones mögen nicht sicher sein, wo sie ihre Köpfe haben, doch ihre Herzen sind draußen auf der Straße.«42

Die Musik der Rolling Stones — ihre »Gewalt, Unmittelbarkeit und Präsenz«, wie es Jon Landau in seiner Auseinandersetzung mit diesem Song umschrieben hatte43 — spreche ihre eigene Sprache. Und sofern sich die Stones darin treu blieben, produzierten sie trotz allem noch jene revolutionären Energien, die sich die Aktivisten der politischen Linken von der Rockmusik erhofften. An diesem Punkt trafen sich die Stones dann sogar mit den Kritikern ihres Songs.

Doch viel aufschlußreicher noch ist in diesem Fall seine Entstehungsgeschichte, die Tony Sanchez, der persönliche Sekretär von Keith Richards, glaubhaft überliefert hat. Er berichtete:

»Er (Jagger) stürzte sich förmlich auf die Chance, an der Revolution teilzunehmen, als Tausende zornige junge Leute den Grosvenor Square in London stürmten, um vor dem gewaltigen und modernen Gebäude der amerikanischen Botschaft gegen den amerikanischen Imperialismus und den Vietnamkrieg zu demonstrieren. Zunächst blieb er unerkannt, reihte sich zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau in die Menschenkette ein, die sich ihren Weg durch die Polizeiabsperrungen zur amerikanischen Botschaft zu bahnen versuchte. Er fühlte sich als ein Teil dessen, was sich ereignete, indem er wirklich mitmachte. Doch dann wurde er erkannt, die Fans verlangten Autogramme, die Zeitungsleute überschlugen sich, um ein Interview von ihm zu bekommen, ihn zu fotografieren. Er flüchtete, mit der bitteren Erkenntnis; daß sein Ruhm und sein Reichtum ihn von der Revolution ausschlossen. . . Er machte aus dieser Erkenntnis einen neuen Song, 'Street Fighting Man`. . .«44

Nichts offenbart deutlicher die tiefen Widerprüche in der Ideologie des Rock als dieses Bericht. Der exzentrische Individualismus des »Rockkünstlers«, der sich ja damit legitimierte, daß er die gemeinsamen Erfahrungen der Jugendlichen artikuliere, war weit entfernt von den sozialen Realitäten, die er auszudrücken und zu verändern beanspruchte. Rockmusiker, sofern sie erfolgreich sind, stehen mit ihrem materiellen Reichtum am oberen Ende der sozialen Hierarchie, und das ergibt eine Perspektive, die andere Grenzen als die des eigenen Bewußtseins tatsächlich nicht kennt. Paul McCartney von den Beatles erklärte einem Interviewer einmal mit entwaffnender Offenheit:

»Warum wir keine Kommunisten sein können? Wir sind die Nummer Eins unter den Kapitalisten der Welt.«45

Die von den Musikern entwickelten Wertkriterien und Maßstäbe des Musizierens — Kommunikation, Kreativität und Gemeinschaftserfahrung durch Musik — waren von einem extremen Individualismus aus konzipiert, mit dem sie die Bedingungen des Musikgeschäfts ideologisch zu unterlaufen glaubten. Sofern es gelang, sich gegenüber dem kommerziellen Druck der Industrie durchzusetzen und trotzdem erfolgreich zu sein, schien ein Stück Selbstverwirklichung erreicht, das in ihrem Verständnis die Logik des Kapitals durchlöcherte und einer von dessen Interessen gesteuerten kulturellen Fließbandproduktion etwas Persönliches entgegensetzte. Oder wie es Steve Rawlings von der Danse Society 1984 gegenüber dem New Musical Express formulierte:

»Der Fakt, daß die Bands genau das machen, was sie wollen, und trotzdem ein Massenpublikum ansprechen, ist eine weit größere Unterwanderung als eine unbedeutende kleine Revolution, die auf dem Hinterhof der Gesellschaft stattfindet. Sich in dieses große und beschissene Geschäft einzuschleichen und eine Million nach deinen eigenen Bedingungen zu verkaufen — das ist es, was wirklich wichtig ist.«46

Für die Musiker ist die Rockmusik das Reich der freien und kreativen Entfaltung der Persönlichkeit, und von hier aus bestimmte sich, erst einmal unabhängig von Spielweise und Stilkonzeption, der Sinn ihrer Musik. In die Klangstrukturen des Rock war von ihnen ein zutiefst persönlicher Sinn eingegraben, den diese Musik in ein kollektives Gemeinschaftserlebnis transformieren sollte, das sie zum Ausdruck der persönlichen Erfahrungen eines jeden ihrer Hörer machte. Aus den bewegten sechziger Jahren hatte die Rockmusik eine Ideologie bezogen, die sie sowohl den Prämissen einer individuellen und persönlichen als auch dem Postulat einer kollektiven Ausdrucksform unterwarf. Dieser Widerspruch hat sie nicht weniger geprägt als die kulturellen Gebrauchszusammenhänge, in denen sie sich dann tatsächlich realisierte. Er brach auf, als sich die Rockmusik am Ende der sechziger Jahre in Stilkonzepte zerfaserte, die entweder, wie der Art Rock von Genesis, Gentle Giant oder Yes, die Autonomie des »Rockkünstlers« über den Anspruch auf Kollektivität zu stellen begannen, oder, wie der Hard Rock von Led Zeppelin, Uriah Heep und Black Sabbath, das individualistische Kreativitätsideal einem ungebrochenen Gemeinschaftserlebnis opferten. Immer aber galt diese Musik als der ehrlichste, unmittelbarste und aufrichtigste Ausdruck ihrer Individualität als Musiker, was eine emanzipatorische Kraft haben sollte, die die Menschen zusammenbringt und frei macht — am Ende eine schöne, aber große Illusion.

Ed Leimbacher hat Anfang 1970 in Ramparts, dem amerikanischen Magazin der Neuen Linken, die Rockmusikentwicklung des sechziger Jahre in den folgenden Worten zusammengefaßt, die bis heute eigentlich nichts von ihrer Aktualität verloren haben:

»Wir alle kennen das Rock'n'Ritual: geboren von den jungfräulichen Fünfzigern, gelitten unter Chubby Checker, gekreuzigt vom Surf, gestorben in Philadelphia, begraben von den Folksingern, im dritten Jahr der Sechziger wiederauferstanden und aufgefahren zum Popmusik-Himmel, wo er sitzt zur Linken des Generationskonflikts, zu richten die Politiker und Über-Dreißiger. In Wirklichkeit ist der Rock im Jahre des Herrn 1970 natürlich genauso verwirrt und durcheinander wie eh und je. Und trotzdem macht sich die Musik noch immer ganz hübsch. Was die meisten Schwierigkeiten hat, ist der bislang unterstellte 'revolutionäre Geist' des Rock — jener schizophrene Traum aus Wunschdenken und Selbstbetrug. . . Seht Euch das Establishment doch einmal genauer an. Ihr seht, es besteht aus Gummi — es paßt sich an, indem es sich ausweitet, indem es sich ein bißchen weiterdehnt und alle verrückten Exzesse und Abweichungen schluckt. . . ; und sobald er ein bißchen an der Aktion beteiligt war, setzt sich der zornige junge Mann zur Ruhe, um Lippenbekenntnisse für die Revolution abzugeben, eine Revolution aus Musik, Wut und bezeichnendem Nichts.«47

 

Anmerkungen

1 Zit. n. The Rolling Stone Interview: Pete Townshend, in: Rolling Stone, 28. September 1968, 14 ( zurück)

2 The Beatles, Sgt. Pepper's Loneley Hearts Club Band, Parlophone PCS 7027 (GB 1967)

3 The Beatles, Hey Jude c/w Revolution, Apple R 5722 (GB 1968)

4 The Rolling Stones, Beggars Banquet, Decca 6.22157 (GB 1968)

5 Pink Floyd, A Saucerful of Secrets, EMI Columbia 6258 (GB 1968)

6 Simon Frith, Popular Music 1950-1980, a. a. O., 36

7 Zit. n. James Marks/Linda Eastman, Rock, (Bantam Books) New York 1968, 54

8 Zit. n. Helmut Salzinger, Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? Ein Essay über Pop-Musik und Gegenkultur (Fischer) Frankfurt (Main) 1972, 124

9 Simon Frith/Howard Horne, Welcome to Bohemia!, Warwick Working Papers in Sociology, (University of Warwick) Coventry 1984, 13

10 Zit. n. The Pop Think-In: Pete Townshend, in: Melody Maker, 14. Januar 1967, 9

11 Zit. n. The Rolling Stone Interview: Keith Richards, in: Rolling Stone, 19. August 1971, 24

12 Dave Marsh, Before I Get Old..., a. a. O., 47

13 Simon Frith/Howard Horne, Doing the Art School Bob. Oder: Ein kleiner Ausflug an die wahren Quellen, in: K. Humann/C.L. Reichert (Hrsg.), Rock Session 6. Magazin der populären Musik, (Rowohlt) Reinbek b. Hamburg 1983, 286

14 Zit. n. Nick Jones, Well, What Is Pop Art?, in: Melody Maker, 3. Juli 1965, 11

15 Simon Frith, Jugendkultur und Rockmusik, a. a. O., 73

16 Jon Landau, It's too Late to Stop Now..., a. a. O., 130

17 Zit. n. Raoul Hoffmann, Zwischen Galaxis & Underground, a. a. O., 128

18 Richard Neville, Playpower, (Paladin) London 1970, 75

19 Bob Dylan, Blowin' in the Wind, auf: The Freewheelin' Bob Dylan, CBS Columbia CS 8786 (USA 1963)

20 Anthony Scaduto, Bob Dylan, a. a. O., 360

21 Zit. n. Broadside, Nr. 61, August 1965, 11

22 Working Class?, in: Daily Worker, 7. September 1963, 5

23 Zit. n. Simon Frith, The Sociology of Rock, a. a. O., 193

24 Bob Dylan, The Times They Are A-Changin', CBS Columbia CS8905 (USA 1964)

25 Zit. n. David Pichaske, A Generation in Motion..., a. a. O., XIX

26 Robert S. Anson, Gone Crazy and Back Again. The Rise and Fall of the Rolling Stones Generation, (Doubleday) New York 1981, 129

27 John Sinclair, Popmusik ist Revolution, in: Sounds, I, 1968/12, 106

28 Zit. n. Ralph J. Gleason, Like A Rolling Stone, in: J. Eisen (Hrsg.), The Age of Rock..., a. a. O., 72f

29 Greil Marcus, Mystery Train..., a. a. O., 115

30 Zit. n. Tony Palmer, Born Under a Bad Sign, (William Kimber) London 1970, 145

31 The Beatles, Revolution, Apple R 5722 (GB 1968); © 1968 by Northern Songs Ltd., London

32 Zit. n. Jon Wiener, Come Together. John Lennon in His Time, (Random House) New York 1984, 8

33 Zit. n. Raoul Hoffmann, Zwischen Galaxis & Underground, a. a. O., 77

34 Zit. n. ebd., 152

35 John Hoyland, An Open Letter to John Lennon, in: Black Dwarf, 27. Oktober 1968, o. S.

36 John Lennon, A Very Open Letter to John Hoyland from John Lennon, in: Black Dwarf, 10. Januar 1969, o. S.

37 The Beatles, Apple PCS 7067/8 (GB 1968)

38 Zit. n. Jon Wiener, Come Together..., a. a. O., 61

39 John Lennon & Plastic Ono Band, Give Peace a Chance, Apple 1813 (GB 1969)

40 Zit. n. Jon Wiener, Come Together..., a. a. O., 84

41 The Rolling Stones, Street Fighting Man; auf: Beggars Banquet, Decca 6.22157 (GB 1968); © 1968 by Abkco Music Incorporation, New York

42 Jon Landau, Rock'n'Radical?, in: Daily World, 22. Februar 1969, 18

43 Ebd.

44 Tony Sanchez, Up and Down with The Rolling Stones, (Signet) New York 1980, 127f

45 Zit. n. Barry Miles, Beatles in Their Own Words, (Omnibus) London 1978, 62

46 Zit. n. New Musical Express, 21. April 1984, 13

47 Ed Leimbacher, The Crash of The Jefferson Airplane, in: Ramparts Magazine, Januar 1970, 14

nach oben