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Archiv Rock und Revolte
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Zur Klassenanalyse des Subkultur

Polit-ökonomische Anmerkungen zur hedonistischen Jugendbewegung*

von Arno Klönne

Das Verhältnis jenes Teils der jungen Linken, der sich theoretisch-politisch zu artikulieren versteht, zum Phänomen jugendlicher Subkulturen hat sich in den letzten zwei Jahren gerade in Westdeutschland auf nahezu extreme "Weise verändert. In demselben Maße, in dem die linke Studenten- und

 Jugendbewegung sich — um es in den Begriffen ihres Selbstverständnisses zu benennen — von der „antiautoritären, außerparlamentarischen Neuen Linken" zum „organisatorischen Ansatz einer proletarischen Partei" entwickelte, wandelte sich die Einschätzung der gesellschaftlichen Funktion auch jener jugendlichen Subkulturen, die — wie auch immer im einzelnen variiert — antikapitalistische Impulse und Gegenbilder zum Herrschaftsstaat kapitalistischer Prägung durchaus mit den Verfechtern neoleninistischer Organisationsmodelle des Klassenkampfes teilen.

Während im Höhepunkt der Anti-Notstands-, Anti-Springer- und Vietnam-Kampagnen jugendliche Subkulturen der Neuen Linken noch als Symptome einer weitreichenden „neuen Sensibilität" galten, also als — gewiß nicht unproblematischer, dennoch potentiell revolutionärer — Ausdruck der emotionalen Abwendung von den Verhaltensnormen des herrschenden Kapitalismus, überwiegt inzwischen in den organisierten sozialistischen und kommunistischen Jugend- und Studentengruppen der Bundesrepublik die Meinung, solche jugendlichen Subkulturen seien nichts weiter als zurückgebliebene Abfälle der antiautoritären Phase einer neuen sozialistischen Bewegung, eine Art „anarchistischer Sumpf", geprägt durch die Unfähigkeit, sich aus „kleinbürgerlichen" Denk- und Verhaltensformen zu lösen (1).

Bemerkenswert ist dabei die Rigorosität, mit der zur Zeit in den politisch tonangebenden Gruppen der sich selbst als „nicht-revisionistisch" und „revolutionär" verstehenden westberliner und westdeutschen Linken die Diskussion über eine möglicherweise positivere gesellschaftstheoretische Bestimmung der Wirkungen hedonistischer Jugendbewegungen abgeschnitten wird.

An dieser Stelle sei ein autobiographischer Exkurs gestattet — auch wenn damit die derzeit in der strengen Linken geltende Regel durchbrochen wird, wonach der Bezug auf individuelle Entwicklungsgeschichte die Darstellung objektiver Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses höchstens zu irritieren imstande sei. Der Verfasser dieser Anmerkungen ist in den ersten Jahren nach 1945 in ein spezifisches Milieu der Sozialisation geraten, das Merkmale einer antikapitalistischen, antifaschistischen und zugleich hedonistischen jugendlichen Subkultur aufwies. Gemeint ist das Milieu von dj. 1. 11. Es handelte sich hier um den Ausläufer einer Linksabspaltung von der bürgerlichen Jugendbewegung der dreißiger Jahre (2). Wie schon einmal in den Jahren des Versuchs einer sozialistischen Revolution in Deutschland nach Ende des Ersten Weltkrieges (damals mit dem Einschwenken eines Teils der Freideutschen Jugend in die linkssozialistische und kommunistische Jugendbewegung), so ging auch in der Zeit der Weltwirtschaftskrise und damit der Zuspitzung der inneren Widersprüche des Kapitalismus gerade in Deutschland eine Strömung der bürgerlich-bündischen Jugendbewegung in das Lager der antifaschistischen und antikapitalistischen Linken hinüber. Unter Beibehaltung spezifisch subkultureller Verhaltensorientierungen und Gruppenstrukturen veränderte dieser nach links abgespaltene Teil der bürgerlichen Jugendbewegung seine soziale Rekrutierungsbasis hin zur Arbeiterjugend. Die Kombination solcher Eigenschaften einer hedonistischen, auf subkulturelle Realisierung von Glücksmöglichkeiten, die die herrschende Gesellschaft verweigert, gerichteten Jugendbewegung mit antifaschistischen und an der Tradition und Gegenwart der internationalen Arbeiterbewegung orientierten politischen Tendenzen ließ hier ein Gegenmilieu entstehen, das sich nach allen empirischen Befunden zur Zeit der faschistischen Herrschaft in Deutschland als außerordentlich widerstandsfähig erwies (3). Der faschistische Staat war trotz aller ihm zur Verfügung stehenden Instrumente der Unterdrückung und der Manipulation nicht in der Lage, die — auch quantitativ beachtliche — illegale Fortexistenz dieses oppositionellen Jugendmilieus zu zerschlagen. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die relativ große Widerstands- und Überlebensfähigkeit, die solche Gruppen, verglichen mit dem Gros der bis 1933 existierenden sozialistischen Jugendverbände, in der Zeit der Illegalität aufweisen, darauf zurückzuführen ist, daß hier — im Unterschied zum überwiegenden Teil der traditionellen, nicht-hedonistischen linken Jugendorganisationen — die Ablösung von bürgerlichen Normen stärker in den Versuch einer antizipierenden „Gegenkultur" vorangetrieben war und deren partielle Vorwegnahme in der jugendlichen Gruppe der politischen Opposition eine „lebensgeschichtliche Perspektive" beigab und sie auf diese Weise stabilisierte.

Nun soll hier das historische Gegenmilieu linker illegaler Jugendbewegung nicht auf falsche Weise idealisiert werden; die ohne Zweifel vorhandene Ambivalenz auch dieser Ausformung linker Jugendbewegung wird schon daran deutlich, daß sie im wesentlichen das Ende des Faschismus in Deutschland nur um einige Jahre noch überlebte. Die ökonomische und politische Restabilisierung des Kapitalismus in Westdeutschland nach 1948 und die dabei entwickelte neue Methodik der Verinnerlichung kapitalistischer Wertorientierungen waren durchaus imstande, gegenläufigen Subkulturen den Boden zu entziehen — ein historisches Schicksal, das diese linke Jugendbewegung freilich mit gesellschaftlich weitaus mächtigeren Bewegungen teilt, nämlich den Subkulturen sowohl des (in den Kapitalismus bis dahin nie wirklich integrierten) populistischen deutschen Katholizismus wie auch, trotz aller gegenwärtigen künstlichen Wiederbelebungsversuche, der traditionellen Arbeiterbewegung. ...

Der Verfasser dieser Anmerkungen, um den autobiographischen Faden wieder aufzunehmen, hat in den fünfziger Jahren den Zusammenbruch jener vorhin kurz beschriebenen historischen linken Jugendbewegung wie auch gleichzeitig den Verfall der historischen Arbeiterbewegung gleichermaßen — man entschuldige das pathetische Wort — schmerzhaft miterlebt. Er ist in seiner weiteren politischen Arbeit dann davon ausgegangen, daß es bei der notwendigen Rekonstruktion einer antikapitalistischen, sozialistischen Bewegung in der Bundesrepublik darauf ankäme, Erfahrungen solcher Vorläufer-Bewegungen „aufzuheben" — dies in einem doppelten Sinne: einerseits im Sinne einer Aufarbeitung der historischen und politisch-ökonomischen Zusammenhänge des Scheiterns dieser Bewegungen, andererseits im Sinne der Anknüpfung an gedankliche und personelle Traditionslinien.

Die Entwicklung einer fundamentaloppositionellen Jugend- und Studentenbewegung ab etwa 1967, die sowohl die Komponente subkultureller Ausdrucksformen antikapitalistischer Tendenzen als auch die Komponente der Wiederaufnahme gesellschaftstheoretischer Ansätze der historischen Arbeiterbewegung enthielt und zunächst miteinander verband, schien solchen Absichten eine Chance zu geben. Allzu schnell allerdings zerbrach diese „Einheit im Widerspruch". Statt den hier notwendigerweise auftretenden Widerspruch zunächst durchzuhalten und aus der Tradition der Arbeiterbewegung und der marxistischen Theorie als historischer Opposition zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einerseits, aus subkulturellen Antizipationen nicht-kapitalistischer Gesellschaft andererseits neue praktische und theoretische Ansätze zu entwickeln, lösten die ideologisch führenden Gruppen der linken Studenten- und Jugendbewegung diese zwei Seiten desselben realen gesellschaftlichen Widerspruchs voneinander ab, um zunächst jede Möglichkeit der Anknüpfung an die „alte Linke" und ihr theoretisches und praktisches Potential zu verwerfen, sodann die antiautoritär-„subkulturelle" Ausdrucksform gesellschaftlicher Opposition als kleinbürgerliche Kinderkrankheit des eigenen Entwicklungsprozesses pauschal abzuqualifizieren und schließlich sich in rigider Weise auf ganz spezifische, vom historischen Zusammenhang getrennte Organisations- und Ideologieformen der traditionellen Arbeiterbewegung zu fixieren. Der Verfasser erinnert sich an eine zentrale Delegiertenkonferenz des SDS in dessen „antiautoritärer" Phase: Sein Versuch, dort in einem Diskussionsbeitrag bestimmte fragwürdige Parallelen zwischen der Neuen Linken und der klassischen Jugendbewegung aufzuzeigen und auf die Möglichkeit hinzuweisen, sich durch kritische historische Reflexion dieser Problematik vor einem negativen Wiederholungszwang zu schützen, ging im lauten Mißfallen der Majorität der Delegierten unter (4). Das geschah zu einem Zeitpunkt, als Apologeten der herrschenden Gesellschaftsordnung (wie etwa E. K. Scheuch) noch nicht auf den Gedanken gekommen waren, solche Parallelen vorzuführen, um damit die Neue Linke insgesamt als rückwärtsgerichtete Sozialromantik abzutun. Inzwischen ist es unter sozialistischen und kommunistischen Gruppen üblich geworden, die eigene jüngste Vergangenheit und zugleich die noch bestehenden Ansätze linker Subkulturen ohne weitere Differenzierung als kleinbürgerlichen Utopismus zu denunzieren, und der Verfasser sieh sich in der eigentümlichen Lage, die produktiven Elemente der subkulturell-antiautoritären Strömung gegen Ankläger verteidigen zu müssen, die vor kurzem nod als Protagonisten der antiautoritären Neuen Linken ihn selbst als unverbesser liehen marxistischen Traditionalisten „entlarvten"...

Hektik und Hysterie, die in diesem Punkt offensichtlich das Argumentationsverhalten vieler linker Gruppen kennzeichnen, sind meines Erachtens ein Hinweis darauf, daß das Verhältnis zum Problem der Subkultur für die Linke in unserer Gesellschaft eine untergründige Brisanz hat (5). Im folgenden soll versucht werden diesen Zusammenhang wenigstens an einigen Stellen ans Licht zu holen.

Das inzwischen in der westberliner und westdeutschen Linken dominierende Interpretationsschema für das Phänomen linker, zumeist jugendlicher subkulturellei Phänomene geht von klassenanalytischen Kategorien aus und läßt sich, etwas abgekürzt, folgendermaßen skizzieren: Die subkulturelle Reaktion auf die Versagungen, die die kapitalistische Gesellschaft mit sich bringt, ist eine typische Verhaltensweise kritisch gewordener Mittelschichtenangehöriger. Diese Mittelschichten, insbesondere das überkommene Bildungsbürgertum, verlieren ihre gesellschaftliche Funktion angesichts der ökonomischen Polarisierung der Gesellschaft in eine immer kleiner werdende Klasse von Eigentums- und Verfügungsgewaltigen übet Produktionsmittel (Bourgeoisie) einerseits, in eine immer mehr anwachsende Klasse von Lohnarbeitern (Proletariat) andererseits. Jugendlich-intellektuelle Teile dei historisch zerfallenden Mittelschichten reagieren auf den angedeuteten gesellschaftlichen Funktionsverlust, indem sie sich vom Kapitalismus abwenden, dies aber so, daß sie die Einordnung in die „Organisation des Proletariats" nicht vollziehen können oder wollen, sondern abseits der realen gesellschaftlichen Kämpfe „subkulturelle", utopisch-sozialistische „Provinzen" konstruieren. Diese Interpretation lehnt sich theoretisch an die Kritik des kleinbürgerlichen Sozialismus an, wie sie in der Entstehungsphase des Marxismus formuliert wurde (6). Richtig scheint mir an diesem Erklärungsversuch, daß die sozio-ökonomische Ausgangsposition gegenwärtiger linker subkultureller Gruppen (die sich in der Tat zunächst vorwiegend aus den Mittelschichten und speziell dem Bildungsbürgertum rekrutierten) nicht ohne Einfluß auf ihre gesellschaftlichen Alternativvorstellungen bleibt. Ohne Zweifel sind auch in den linken Subkulturen spezifische Verhaltenstraditionen wirksam, die auf einen mehr oder weniger subtilen Versuch hinauslaufen, nun wenigstens im Feld der Subkultur den überkommenen relativen Statusvorsprung jetzt absinkender Schichten zu retten. Damit einher geht eine Neigung zu bürgerlichem, hier nur links aufgemachtem Kulturpessimismus bzw. eine linksidealistisch aufgemachte Abneigung gegen die — unterhalb der Bourgeoisie — egalisierenden Folgen industriegesellschaftlicher Entwicklung. Solche Orientierungen lassen sich unschwer aus dem sozio-ökonomischen Zusammenhang erklären, nämlich als Reaktionen einer Schicht, die ihren eigenen Untergang für das Ende der Geschichte hält. Dennoch wäre es meines Erachtens höchst problematisch, wollte man sich mit dem Nachweis und der Erklärung dieser Komponente in den linken jugendlichen Subkulturen begnügen.

Zu denken geben sollte zunächst der Umstand, daß — wenn nicht alles täuscht — linke jugendliche Subkulturen inzwischen in keineswegs geringerem Umfange als die studentischen Ansätze „proletarischer Parteien" auch junge Leute aus dem Milieu der Industriearbeiterschaft für sich gewinnen. Zu denken geben sollte ferner die Tatsache, daß jugendliche Subkulturen, die ihrer Verhaltendisposition nach nicht links stehen („Rocker"), sondern eher für faschistische Einstellungen anfällig sind, sich auch immer wieder aus der Industriearbeiterschaft rekrutieren. Ohne die Erklärungszusammenhänge dafür hier darstellen zu können, sei immerhin soviel gesagt: Die simple Gleichsetzung einer proletarischen oder nicht-proletarischen sozio-ökonomischen Lage mit gesellschaftlich progressiven oder reaktionären Neigungen hat mit der Realität nichts zu tun.

Hinzu kommt, daß die Klassenanalyse, die dem vorhin skizzierten Interpretationsschema über Subkulturen zugrunde liegt, zunehmend fragwürdiger wird. Diese Analyse unterstellt nämlich, daß der Zerfall der besonderen sozio-ökonomischen Position der Mittelschichten zur Ausweitung des Proletariats im Sinne der klassischen Industriearbeiterschaft führen müsse. Eben diese in politische Strategien umgesetzte Annahme stimmt mit den realen Entwicklungstrends der hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften keineswegs überein. So sicher es ist, daß die Klasse der abhängig Arbeitenden, also der Lohn- und Gehaltsabhängigen, immer eindeutiger zur übergroßen Majorität der Bevölkerung wird, so sicher ist es auch andererseits, daß sich innerhalb dieser Klasse das Verhältnis von produzierenden zu kommerziellen und dienstleistenden Arbeitern (oder Angestellten) immer mehr zugunsten der letzteren verschiebt. Dem entspricht auch die Fortentwicklung der inneren Mechanismen kapitalistischer Herrschaftsausübung: In immer größerem Umfange sind die privaten Konzerne darauf angewiesen, zur Sicherung der Bedingungen der Kapitalverwertung den Staat und seine regulierenden und intervenierenden Funktionen in Dienst zu nehmen; eben dies aber bedeutet wiederum Ausweitung jener Teile der Lohn- und Gehaltsabhängigen, die nicht der klassischen Industriearbeiterschaft zuzurechnen sind.

Sicherung der Kapitalverwertung setzt ferner mehr und mehr die Existenz einer zunehmend größeren Gruppe solcher Lohn- und Gehaltsabhängigen voraus, die über wissenschaftliche Teilqualifikationen verfügen. Auch damit verfällt nicht nur die privilegierte Position der traditionellen, zahlenmäßig klein gehaltenen Intelligenz, sondern zugleich verändert sich die interne Struktur der Klasse der Lohn-und Gehaltsabhängigen.

Nicht unwichtig ist schließlich, daß die Arbeitsbedingungen der Industriearbeiterschaft sich teilweise in einer Richtung verändert haben und weiter verändern, die eine unvermittelte, aus dem Arbeitszusammenhang heraus sich entfaltende Motivation zur solidarischen Organisation nicht mehr ohne weiteres wahrscheinlich macht — es sei denn, eine auf die gesellschaftliche Totalität bezogene Perspektive würde solche Motivationen neu fundieren.

Die hier nur kurz angedeuteten politisch-ökonomischen Entwicklungen innerhalb des kapitalistischen Systems geben alle Veranlassung, auch den Stellenwert subkultureller Phänomene innerhalb einer auf Veränderung der Gesellschaft zielenden Bewegung neu zu bestimmen. Als die KPD der dreißiger Jahre Wilhelm Reich in den Bann tat, geschah dies deshalb, weil Reich es darauf anlegte, nicht nur die unmittelbar politisch-ökonomische Auseinandersetzung zwischen den Klassen, sondern auch die kulturellen Normen und die Verhaltensorientierungen des Proletariats selbst in kritischer Absicht zu thematisieren. Reich ging dabei von der Hypothese aus, daß nur ein kulturelles Gegenmilieu die Widerstandsfähigkeit gegen den Faschismus absichern könne. So fragwürdig vieles an den Theorien des frühen und mehr noch des (durch erzwungene Absonderung von der Arbeiterbewegung in die Skurrilität gedrängten) späten Reich sein mag — in der Betonung dieses Faktors hat Reich recht behalten. Die KPD begründete damals die Trennung von Reich mit dem Argument, die Gewichtung, die Reich neben der Sphäre der Produktion auch der Sphäre der „Konsumtion" gäbe, sei mit marxistischer Auffassung unvereinbar (7). Demgegenüber meine ich, daß die marxistische Methode gesellschaftlicher Analyse heute nur zu einem Ergebnis führen kann, das Reich in diesem Punkt eine späte Bestätigung gibt. Zwar bildet die industrielle Produktion nach wie vor den Kern der ökonomischen Herrschaft, nämlich die Ebene, auf der sich Kapitalverwertung vollzieht, aber die ökonomischen Funktionen, auf die sich dieses System stützt, werden in immer größerem Umfange außerhalb der Sphäre der Produktion geleistet, und die konkreten Erfahrungsmöglichkeiten der Irrationalität dieses Systems liegen heute, auch für die produzierenden Arbeiter, zum erheblichen Teil außerhalb der Produktion. Nicht zufällig haben sich antikapitalistische Kampagnen in den letzten Jahren auf Ebenen entwickelt, die (wenn man dieses kategoriale Schema beibehalten will) der Sphäre der Konsumtion zuzurechnen sind, so etwa in der Frage des Bodenrechts, des Privateigentums an Wohnraum, der Verkehrsversorgung, der Gesundheitsvorsorge usw. Derartige Ansatzpunkte für Alternativbewegungen, die in früheren Phasen des Kapitalismus in der Tat als peripher gelten mußten, liegen heute bereits im Zentrum der Legitimation oder Nicht-Legitimation des herrschenden Systems. Nur ein unmarxistisches Verständnis der marxistischen Theorie kann zu der Auffassung verleiten, daß thematische Ansatzpunkte, die zu Zeiten des Kapitalismus, wie ihn Marx vorfand, 7,u Recht als utopistisch angesehen wurden, unter den Bedingungen des staatlich verschränkten Hochkapitalismus zwangsläufig immer noch diesen utopistischen Charakter haben müßten.

Dieser heutige Kapitalismus hat die Fähigkeit, die Bedürfnisse der Menschen in seinem Interesse zu programmieren, zur Bedingung seiner weiteren Existenz, d. h. wenn der Kapitalismus weiter bestehen will, wird er die Bedürfnisse der Menschen manipulieren müssen: er wird ihnen Bedürfnisse, die sie haben, aber im Kapitalismus nicht befriedigen können, ausreden müssen, und er wird den Menschen andere Bedürfnisse, die sie nicht haben, einreden müssen, weil er — der Kapitalismus — sie befriedigen kann. Eben deshalb wird, wer das System verändern will, auch die Bedürfnisse revolutionieren müssen. Genau hier können subkulturelle Phänomene ihre progressive Funktion haben — wenn und soweit es ihnen gelingt, dazu beizutragen, eine durch Herrschaft gesetzte und Herrschaft erhaltende Definition der Bedürfnisse zu durchbrechen.

An dieser Stelle kann ein — notgedrungen verkürzender — Hinweis auf Entwicklungsprobleme der bestehenden nicht-kapitalistischen Staaten nützlich sein. Die Ablösung kapitalistischer Strukturen in der politischen Ökonomie bedeutet nicht ohne weiteres auch den Untergang jener Wertorientierungen und Erwartungshaltungen, die sich im Zusammenhang der Durchsetzung des Kapitalismus stabilisierten. Insofern standen und stehen Gesellschaften wie die UdSSR, die DDR usw. (anders vielleicht als die Volksrepublik China) vor dem Problem der Fortexistenz „kapitalistischer Ethik". In der DDR hat sich in jüngster Zeit unter anderen Dieter Klein (8) mit dieser Frage in progressiver Weise auseinandergesetzt. Der sogenannte „Ökonomismus" in diesen Staaten hat seine unvermeidbare Seite dort, wo es darum geht, den Stand der Produktivkräfte so zu entwickeln, daß die Reproduktion der Gesellschaft langfristig gesichert ist — er hat seine fragwürdige Seite dort, wo die Definition gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse als Kriterien dieser Reproduktionsfähigkeit immer noch durch im Kapitalismus entwickelte Werthaltungen mitbestimmt ist.

Man wird davon ausgehen müssen, daß weder in den bestehenden nicht-kapitalistischen Staaten eine hinreichende Lösung dieses Problems gefunden, noch in den hochentwickelten kapitalistischen Staaten eine Veränderung der politisch-ökonomischen Grundstrukturen durchsetzbar sein wird, wenn es nicht gelingt, das kapitalistische System mit Erwartungshaltungen zu konfrontieren, die nicht der Logik dieses Kapitalismus selbst entstammen.

Angesichts solcher Überlegungen erweist sich meines Erachtens die pauschale Distanzierung der organisierten Linken von subkulturellen Gruppen als falsch. Gewiß wirken subkulturelle Gruppen dort systemstabilisierend, wo Einkapselungen in dieses oder jenes Kontrastmilieu von der Notwendigkeit kontinuierlicher theoretischer Arbeit und organisierter politischer Aktion ablenken, wo also die subkulturelle Gruppe sich zum Alibi kapitalistischer Herrschaft domestizieren läßt. Symptomatisch ist hier zumeist die resignierte Flucht in eine nur noch expressive Form der Kommunikation, die darauf verzichtet, gesellschaftliche Komplexität überhaupt noch „in Sprache" zu bringen. Zu überprüfen wäre auch, welche subkulturellen Inhalte sich jeweils rasch in Revoltekonsum als neue Erscheinungsform der kapitalistischen Warengesellschaft umfunktionieren lassen — und welche Inhalte sich demgegenüber als widerstandsfähiger erweisen (9). Einigkeit besteht gewiß darin, daß Revolte- oder Revolutionskonsum als reflexartige Reaktion im Sinne von Abreaktion genau das reproduziert, was man zu bekämpfen vorgibt.

Zu problematisieren ist auch die in linken Subkulturen vielfach verbreitete Parole des Widerstands gegen die „Leistungsgesellschaft". Dieser Widerstand ist überall dort akzeptabel, wo es um die Auflösung historisch überholter oder demokratisch nicht legitimer Kriterien für Leistungsanforderungen beziehungsweise um die. Ablösung von Herrschaftsgruppen geht, die ihre partiellen Interessen zu gesamtgesellschaftlichen Leistungsanforderungen institutionalisiert und ideologisiert haben. Die Frontstellung gegen die Leistungsgesellschaft ist aber ambivalent; sie ist überall dort gerade im Blick auf die Zukunft äußerst fragwürdig, wo sie, abgekürzt gesagt, von der Erwartung ausgeht, daß gesellschaftliches Handeln sich von der Anstrengung des Begriffs und der permanenten Rücksichtnahme, Vereinbarung, zunehmenden und nie aufhörenden Sozialisation entlasten könnte. Leistungen dieser Art wird die Weltgesellschaft von morgen in einem bisher noch gar nicht gekannten Ausmaße fordern — oder es wird diese Weltgesellschaft nicht geben. Die kapitalistische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch hochrationalisierte Teilablaufe, deren Steuerungsprinzipien irrational sind. Kleingruppenhafter Eskapismus in irrationale Teilabläufe bildet hierzu nicht eine „Gegengesellschaft", sondern nur eine Kehrseite, die das System erst richtig komplettiert.

Progressive Subkultur hat nicht auf eine Welt der Blumenkinder vorzubereiten, sondern auf Sozialisationsleistungen, die historisch ohne Beispiel sind.

Zu den Risiken jeder subkulturellen Gruppe stellt freilich die Identifikation mit einem Organisations- und Aktionsmodell, das vergangenen Zeiten der Arbeiterbewegung nachempfunden und heute eher ästhetisch als klassenanalytisch begründet ist, keine Alternative dar. Das größte Risiko subkultureller Existenz liegt vielleicht dort, wo linke Kleingruppen sich ihres subkulturellen Charakters nicht mehr bewußt sind.

Literaturhinweise

(1) Zur ersten Version vgl. zum Beispiel Lothar Hack u. a., Politik und Protest, Frankfurt 1968; zur zweiten Version vgl. die Organe der KPD/AO, KPDIML, des KJVD und 'der entsprechenden Studentengruppen. Eine etwas differenziertere Position nehmen in dieser Frage am ehesten die trotzkistischen Gruppen ein. Die DKP oder die ihr nahestehenden Organisationen haben seit jeher wenig Verständnis für subkulturelle Phänomene gehabt.

(2) Siehe hierzu Karlhermann Tjaden, Rebellion der Jungen, Frankfurt 1958. Leiter des Jugendbundes dj.1.11. war Eberhard Koebeltusk, der nach 1933 emigrierte und Mitbegründer der Emigrations-FDJ war. Die politische Zeitschrift von d). 1.11. waren die „Pläne", in deren Redaktion zeitweise Harro Schulze-Boysen arbeitete.

(3) Siehe hierzu Arno Klönne, Gegen den Strom — Bericht über Jugendopposition im NS-Staat, Frankfurt/'Hannover 19 f 7

(4) Delegiertenkonferenz des SDS, 1968 in Frankfurt. Vgl. auch Arno Klönne, Der romantische Traum vom einfachen Leben, in: Frankfurter Rundschau, 1. 2. 1969

(5) Vgl. hierzu das „Spiegel"-Interview mit Wolf Biermann, Ausgabe vom 1. 3.1971

(6) Siehe dazu etwa die entsprechenden Passagen im Kommunistischen Manifest

(7) Vgl. hierzu W. Reich, Was ist Klassenbewußtsein? Kopenhagen 1934, Nachdruck 1968

(8) Diese Beiträge von Dieter Klein sind veröffentlicht in der FDJ-Studentenzeitschrifl „Forum", Jahrgang 1970. Vgl. hierzu auch Charles Bettelheim, Über das Fortbestehen von Warenverhältnissen in den sozialistischen Ländern, Berlin 1970

(9) Zu dieser Problematik vgl. Frank Böckelmann, Befreiung des Alltags, München 1970; derselbe, Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit, Frankfurt 1971; Wilfried Jaensch, Untergrund und zweite technische Revolution, Basel 1971

 

 
  • * Vorabdruck aus: Diethart Kerbs (Hrsg.), Die hedonistische Linke, Luchterhand-Typoskript, Neuwied Herbst 1971 erschienen in "deutsche jugend"  6/1971, S. 268-275

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