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Archiv Rock und Revolte
Texte

 
Die Provozierung
des Systems
von Walter Hollstein

»Ein Gammler«, so erklärte Provo-Sprecher Rob Stolk, »leistet impulsiv Widerstand, während die Provos sich bewußt und rational dem System verweigern.« Richtig erkannten die Provos, daß in ihren Tagen wenig Hoffnung bestand, die Welt zur deutlichen Änderung ihrer selbst zu bringen. Zu versteinert präsentierten sich die Verhältnisse, als daß das Bestehende in revolutionäre Bewegung hätte gesetzt werden können.

Einsichtig und traurig zugleich formulierte deshalb Roel van Duyn, was auch anderswo gefühlt wurde: »Könnte man doch Revolutionär sein, doch wir sehen eher im Westen die Sonne hochkommen als in den Niederlanden Revolution. Wohnten wir in Spanien oder in der Dominikanischen Republik, dann wären wir es ohne Zweifel. Aber auch als Aufständische beißt man hier auf den Granit des bürgerlichen Konservatismus, das einzige, was uns übrigbleibt, ist die Provokation(1)«

1. Die Bedeutung der Provokation

Verhältnisse, die sich nicht zum Besseren ändern ließen, sollten wenigstens angegriffen und nachdrücklich erschüttert werden. Die rationale Erkenntnis von der Fixiertheit der Gesellschaft führte zum Gebrauch irrationaler Mittel, um den scheinbar so normalen und wohlgeregelten Gang der Dinge zu stören. Mit Kreativität, Einbildungskraft und Formlosigkeit erreichten die Provos in der Tat, daß das Ritual alltäglicher Politik, Administration und Herrschaft durchbrochen wurde. Was einst selbstverständlich erschien und im Dunkel des Unbeachteten verblieb, rückte nun in die Mitte von Diskussion und Einsicht. Den Provos gelang in wenigen Tagen und mit wenigen Happenings, was die politische Aufklärungsarbeit oppositioneller Gruppen während Jahrzehnten nicht fertiggebracht hatte: In den Niederlanden sprach man über die Grundlagen des Staates, den Sinn der Monarchie, den Charakter der Autorität, den Krieg in Vietnam, den Antikommunismus, den sozialen Frieden oder die bürgerliche Identifizierung von Legalität und Legitimität. Mit ihren Provokationen demaskierten die holländischen Rebellen lang Kaschiertes und bewirkten, daß Tabus plötzlich diskutiert wurden. Der Konsens zwischen Herrschern und Beherrschten zerbrach zeitweilig, und die Autorität geriet merkbar ins Wanken. Die Provos erzwangen, was sie in ihrem »Appell an das internationale Provotariat« gefordert hatten: »die Krise der provozierten Autoritäten.« Mehr bot sich kaum an. »Wenn dem Provotariat die Kraft (noch?) fehlt für eine Revolution, dann bleibt uns: die Provokation. Der schlaue Nadelstich, unsere letzte Chance, um die Autoritäten an den vitalen Stellen zu treffen. Durch Provokationen müssen wir die Autoritäten zwingen, sich bloßzustellen. Alle Uniformen, Stiefel, Mützen, Säbel, Knüppel, Wasserwerfer, Polizeihunde, Tränengasbomben und was man für uns noch in petto hat, müssen in Aktion treten(2)

Sie traten in Aktion, und viele Bürger, die unbesehen an die Rechtsstaatlichkeit des Systems geglaubt hatten, schreckten auf und zusammen. Provokation und Unruhe erwiesen sich als nötig, um überhaupt zur Diskussion zu kommen. Diese Einsicht blieb gültig. 1968 reproduzierten beispielsweise Marburger Studenten die Strategie der Provos, als ihre Debatten um die deutschen Notstandsgesetze unbeachtet und folgenlos blieben. »Da haben wir gemerkt«, notierten die Protestanten auf einem Flugblatt, »daß wir gegen Sachlichkeit, die nichts weiter als Müdigkeit bedeutet, gegen demokratisches Verhalten, das dazu dient, die Demokratie nicht aufkommen zu lassen, gegen Ruhe und Ordnung, in der die Unterdrücker sich ausruhen - daß wir gegen diese ganze Scheiße am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier auf den Fußboden setzen.« So fand und findet das Vorgehen der holländischen Provos noch immer in der ganzen Welt Nachahmer und Nachahmung, um Bürger aus ihrer Lethargie aufzuschrecken, Autoritäten zu demaskieren und Fronten zu klären. Stockholms Provos (»Provie«) zeigten am 21. November 1966, wie alle drei Ziele zu erreichen sind: Zur Abendzeit, als Passanten und Schaffende nach Hause strebten, inszenierten die Provies im Zentrum der schwedischen Metropole eine Schlacht zwischen zwei Gruppen; die Mitglieder der einen trugen rote Armbinden und waren als Kommunisten erkenntlich, die Anhänger der anderen trugen blaue Armbinden und gaben sich als Kapitalisten zu erkennen. Die »Kommunisten« brüllten »Nieder mit dem Kapitalismus«, und die »Kapitalisten« skandierten »Nieder mit dem Kommunismus«; beide Gruppen schleppten je eine große Bombe mit sich, die sie am Ende des erbitterten Gefechts auf die »Gegner« warfen. Es gab eine kleine Explosion, die Kämpfenden sanken »tot« zu Boden, Umstehende stimmten ein Lied von Bob Dylan an, und ein Mädchen, das Trauer trug, legte einen Kranz nieder, der verriet, daß er für »die Opfer des atomaren Kriegs« bestimmt war. Eine rege Diskussion begann mit den vielzähligen Passanten, die erst unterbrochen wurde, als die Polizei erschien und die Provies abführte. Diese Aktion der Autoritäten wurde vom Publikum mit Mißfallen quittiert und die Diskussion danach nur noch um so intensiver fortgesetzt.

Anmerkungen

1) Roel van Duyn, Provo - Einleitung ins provozierende Denken, Berlin 1966 p. 20.
2) Roel van Duyn aaO p. 30.

 

  • aus: Hollstein, Walter, Der Untergrund, Berlin und Neuwied, 2. Auflage, 1970, S. 37-46

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