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Archiv Rock und Revolte
Texte

 
Wir verlassen
den alliierten Sektor

oder nicht nur der Ton macht die Musike

von
Randi Warwel

Berlin 1956. Summer in the city: Zoff ist angesagt. „Mambo-Rock - Hau Ruck", „Rock 'n' Roll" und „Pfui Teufel - Polizei" dröhnt es durch die Straßen. Fast 500 „Halbstarke" werden festgenommen. Schaut auf diese Stadt. Die Alten ziehn sich nach getaner Arbeit das „Einmaleins des guten Tons" durch. Die Töchter und Söhne bevorzugen andere Töne. Rund um die Uhr und gegen den Strich. Rock 'n' Roll ist cool. Die Mamas und Papas stehn mehr auf den „warmen Humor" der Berteismann-Anstandsdame.

Tausende pinkfarbene „Lehrbücher"; Mam träumt beglückt, wenn Papa vor dem Einschlafen aus dem Vorwort liest. Von den Wänden des im schlichten Blockadebarock gestylten Schlafzimmers hallt es leise wider: „Die Hebung des allgemeinen Lebensstandards in den letzten Jahren und die Besinnung auf Tradition in der öffentlichen und privaten Sphäre haben nach und nach auch den gesellschaftlichen Umgangsformen ihren Wert zurückgegeben."

Doch was den Eltern als wert und heilig verkauft wird, ist den Kids scheißegal. Sie wollen ihre Träume nicht durch das Leibchen der Manieren geschnürt sehen. Die Bertelsmanndame empfiehlt: männliche Ritterlichkeit, und küssen erst wenn's dunkel ist. Rock 'n' Roll ist körperlich. Lust ist in den Fiftees nicht gefragt. Lebensstandard, Besinnung auf Traditionen, Werte? Sprüche.

1957 offenbart das Berliner Jugendamt in einer auch noch als Denkschrift betitelten Statistik, wer da, im Sommer '56, so gewaltig auf die Kacke gehauen hat. „Primitiv" sind über die Hälfte dieser „Scheinverbrecher". 52,4 % der Festgenommenen sind arbeitslos und ungelernt (1). Ihre Geburtsurkunde ist auf 1938 datiert. Glückliche Jugend. „Was bin ich?" - das heitere Beruferaten, flimmert schon seit zwei Jahren über die Glotze. Ganz Paris träumt von der Liebe, und jenseits von Eden gehen immer noch zehn Mietparteien auf ein Klo. Berlin-Milljöh, schaut auf dieses Klo. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht macht 1956 einen Bogen um Berlin. Bill Haley zwei Jahre später nicht. Daß der Chef der „Comets" nur 40 Minuten seines Programms zum besten geben darf,-haben sich die Fans selber zuzuschreiben.

Zwei Tage vor der Wahl des Papstes, am 26. Oktober 1958, hackt der „Abend"-Chronist in seine Maschine: „Zu Berlins größtem Halbstarkenkrawall artete heute nacht der Versuch des amerikanischen Massenaufpeitschers Bill Haley aus, auf dem Sportpalast-Podium eine Kostprobe seiner Zuckungen, Schreie und Gitarrenschläge darzubieten." Und weiter: „Mr. Haley und seine Veitstanz-Instrumentalisten flohen Hals über Kopf zum Bühnenausgang hinaus." Brennholz für Kartoffelschalen. Die „Primitiven" und ihre niederen Instinkte. Der Sportpalast soll eine solche Rock-Randale bis zu seinem schmerzlichen Abriß nicht mehr erleben.

Doch „Anlässe, vor ihren Flittchen demonstrieren zu können, daß ihnen keiner kann", wie der Polizeimeister Seiden-sticker in dieser Zeit zum besten gibt, sollen die „Halbstarken" noch genug kriegen.

Drei Jahre nach Haley: „Marina", „Tschau, tschau bambina" und „Petit Fleur" dudeln im RIAS und anderswo. Chruschtschow trommelt 1960 in der UNO. Der Pauken-Neuss bringt seine Kellerkinder in die Berliner Kinos. John Lennon gründet die Beatles. Mutters Tochter promeniert mit dem Itsy-Bitsy-Teenie-Bikini am Ufer des Glienicker Sees. Ein Jahr bevor weiße Bojen gesetzt werden und ein festbetoniertes Schild auf eine Veränderung hinweist: Achtung, in 120 m endet West-Berlin.

In der „Dachluke" spielen die „Gloomys". Die rockende „Szene" starrt nach Hamburg, wie die Schlange auf das Kaninchen. Hier, im „Star-Club", wird auf der Bühne noch fremdsprachig gefachsimpelt. Pilzkopf-Fieber here and there and everywhere. Ausscheidungen auch bei uns. „Wir suchen die deutschen Beatles" ist das Motto des Kapellenwettbewerbs, der am Sonntag, dem 6. September 1964, im hansestädtischen „Star-Club" über die Bühne geht. Verkleidet mit Glocke und Fliege werden „The Lords" zum Sieger gekrönt. „Ich bin ein Börrliner" mal fünf. Die Schlagzeilen sind klar. Berlin-West hat den Anschluß gefunden. Die Flasche Fusel kostet noch 2,65 Mark. Der Budiker von der Ecke: „Det war doch echte Berlin-Hilfe, daß die uns damals die Alkohol-Steuer jeschenkt haben." Poor boyyoumustsay-jeahjeah. Life is very hard to stayjeahjeah. „The Lords" werden systematisch aufgebaut. Die Stadt bleibt im Gespräch. Die „Rollicks" belegen Platz eins beim Beat-Weltrekord.

Auch das Jahr '65 ist nicht ohne. Daß in keiner anderen Stadt so intensiv und ausdauernd aus dem Fenster geguckt wird, wie in Berlin, ist unbestritten. Doch als Ende des Jahres einige Pennäler in das Fenster des Schlagersängers Drafi Deutscher starren und den Star ohne Textil gesehn haben wollen, wird Drafi, der am 1. November Platz eins der Hitparade erreicht, zum Fenstersturz freigegeben. Springers „Bild" schubst mit. Drafi muß gehen. „Bild" darf bleiben. Verkehrte Welt. „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht." Das sitzt jahrelang. Im gleichen Jahr: 26 Starfighter hinterlassen bei der Landung Löcher, Baugruben gleich. „It's not unusual" röhrt Tom Jones. Die Waldbühne wird nach dem Gig der Rolling Stones verwüstet wie ehedem der Sportpalast. I can't get no satisfaction. Ein Bravo-Konzert. Die Springer-Journaille hat diesen Abend mit vorbereitet. Mit militärischem Vokabular wurde die Hysterie geschürt. Fazit der Schlacht: Das idyllische Rund am Murellenweg wird für lange Zeit geschlossen. Von Beatles-Konzerten wird oft geflunkert. Stattfinden sie nie.

Es wird nervös in Westberlin. Ami go home. Das Ufer, das den Namen des Mannes trägt, der Drafi die Zeilen für seinen Ohrwurm geliefert hat, liegt noch im Schlummer. Vom Paul-Lincke-Ufer redet noch keiner. Wir lernen Vietnam buchstabieren. Paul Lincke und die Berliner Operette? Wen juckt's? In der City werden die agitatorischen high-lights gezündet. In Kreuzberg geht's immer an der Wand lang. Bis früh um fünfe, süße Maus. Das macht die Berliner Luft, Luft, Luft. Glühwürmchen, Glühwürmchen, schimmre, schimmre! Führe uns auf rechten Wegen, führe uns dem Glück entgegen . . . Ho, Ho, Ho chi Minh. Die Rebellen um Rabehl und Rudi läuten ein, was als APO hitzig beginnt. Die Bildzeitung brennt. Auf den verkohlten Resten des holzhaltigen Papiers glimmt das Wort der vielbeschworenen schweigenden Mehrheit: „Gammler aller Altersgruppen, von denen man die Mehrzahl besser als Penner bezeichnen sollte, spielen eine Art Einkriegezeck mit der Polizei. Abgeführt! Stolz trägt dieser Gammler das Abzeichen der linksradikalen ,Ostermarschierer'. Er ist nicht der einzige." Eine Bild-Unterschrift.

1967 geht das Foto des „Wahrheit"-Fotografen Jürgen Henschel um die Welt. Benno Ohnesorg ist tot. Der Schütze lebt. Drei Jahre später wird Andreas Baader aus dem Knast freigeschossen. Allende wird in Chile Präsident, und die RAF geistert nicht nur durch die Schlagzeilen. Wer nicht auf die Macht vertraut, die aus den Gewehrläufen kommt, geht zum Teach In, Sit In, Smoke In. „Ton Steine Scherben" geben ihr Debüt. Agit-Pop-Band nennen sich die fünf. Ihre Gesänge sind zugänglich, politisch renitent, und man versteht jedes Wort. „Allein machen sie dich ein", „Macht kaputt, was euch kaputt macht", „Alles verändert sich" sind die Titel, die ab '70 nicht nur auf den Fahnen der Freaks flattern. Die Szene hat ihren Sound. Auch wenn „Tangerine Dream" und Klaus Schulze, Anfang der Siebziger, den Grundstein legen sollten, der Westberliner Elektronik-Rockern Ende der Siebziger weltweites Ansehen brachte, sind es „TSS", die lokal die wachsenden Aktionen und Proteste begleiten.

Wer „TSS" sagt, muß auch Georg von Rauch-Haus, muß auch RAF sagen. „Ton Steine Scherben" in einem Rückblick zum eigenen Selbstverständnis: „Wir wußten gar nicht mehr, wo uns der Kopf steht. Wir waren ja keine Politiker! Ob wir nun RAF-Propaganda weitermachen sollten oder KB oder KPD ... Frage: In welcher Form habt ihr RAF-Propaganda gemacht? In Konzerten haben wir von denen Texte verteilt .. . Aber wir wurden immer unsicherer in der Beziehung, weil da so ein Druck auf uns ausgeübt wurde . .. Wenn du so viel Kritik bekommst von allen Seiten, dann wird der Druck so stark, daß du nur noch sagst: Jetzt muß ich 'n klaren Kopf kriegen." (2) Die Agit-Popper pfeifen ab aufs Land. '74/'75 endet „TSS" inmitten satter, grüner norddeutscher Wiesen. Endstation Fresenhagen! Alles aussteigen!

Zur gleichen Zeit: Die Ehre der Katharina Blum bleibt spurlos verschwunden. Die Kommunisten nehmen Saigon ein. Ho-chi-Minh-Stadt, ein für allemal. Als selbiges Kapitel Zeitgeschichte geschrieben wird, ist die „Lokomotive Kreuzberg" schon drei Jahre am Dampfen. Die fünf Musiker, die sich im Mai '72 zur „Lok" zusammenschließen, entwickeln, beseelt vom Feeling des Rock, gesellschaftspolitische Schlußfolgerungen, die in ihren analytischen Eindeutigkeiten keine Zweideutigkeiten dulden.

Versuchten „TSS" einer allgemeinen Resignation vor den Übeln dieser Gesellschaft — Stichworte: überfunktionierter Alltag, immer raffiniertere Medienmanipulation, Außensteuerung der Bürger — durch den verbalen Aufruf zur Solidarität beizukommen, die „Lok" hakt da ein, wo das Übel seine Wurzeln hat, in der Arbeitswelt. Die „Lokomotive Kreuzberg" eine Profi-Truppe mit wachsendem Basisecho, hängt 1977 den Tender ab. Teile der alten Lok kommen kurze Zeit später wieder ins Gespräch. Aus dem Amiga-Sternchen Nina Hagen wird ein CBS-Star. Es klickt und blitzt. Kodak statt Orwo. Nina plus Lok-Teilchen lächelt ganzseitig und farbenfroh auf Illustriertenpapier. Widerborstig und professionell drücken sie auf die Tube.

Mit Nina H. hat eine Sängerin das Lager gewechselt, die in der DDR von der Pike auf gelernt hat, sich unterhaltungskünstlerisch in ihrer Muttersprache auszudrücken. Daß die — mittlerweile göttliche — Nina den Alltag rockend und johlend über die Stimmbänder massiert, bereichert die Szene ungemein. Daß die Plattenmenschen Wellen wittern, wen wundert's? Denn die Zeit ist nervös geworden. In den Kellern suchen unzählige Kapellen nach eigenem Ausdruck, musikalisch und sprachlich. „Morgenrot", vier Typen aus dem „Milljöh", schaffen, aus einem der vielen Übungsbuchten am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer, den Sprung auf den Rücken des Plattenriesen, der auch die Hagen ertragen hat. Als Erben der legendären „Ton Steine Scherben" will das vorwitzige PR-Management die vier anpreisen, doch nicht jede Erbschaft bringt Positive aufs Konto, und wieso eigentlich Erben. Daß „Morgenrot" überrollt wird von den hektischen Ausläufern eines Punkhochs, welches von der britischen Insel zu uns hinübertreibt, sei's drum.

Der Sturm der britischen Punks, der dem Rock 'n' Roll mit radikaler Gewalt neues Leben einhauchen sollte, flaut ab. „Keep Rock 'n' Roll dirty." Was in GB anmutet wie der Untergang des Kulturrock, ist das notwendige Freistrampeln aus den Zwängen von Perfektion, Gigantismus und Apathie. Was bei uns verkauft wird, als müßte das Abendland untergehn, bringt noch lange keine Neubauten zum Einstürzen. Wenn London glimmt, brennt Haselhorst noch lange nicht. Doch die vierte Generation des „Kiaut-Rock" ist mutiger geworden, hat durch den britischen Amoklauf dazugelernt. Englische lyrics sind today geradezu verpönt. Daß der harte Kern der Kreuzberger Anarcho-Punks sich in ätzendem Zynismus gefällt, der No Wave-Block in zynischen Manierismen, ist marginal. Neu ist, daß die neue deutsche Welle auch im BFBS dudelt. Der Kolonialstatus in Sachen Rock scheint endlich überwunden. Westberlin ist eines der Nester, in denen die neue „Tanzmusik" aus dem Ei schlüpft.

Arbeitslosigkeit, Bigotterie, Wohnungsnot, Frust und das lustfeindliche Drumherum sind nicht nur britische Probleme. Schaut auf diese Stadt. Artischocke, „Rock 'n' Roll Ausverkauf": „Deutschland, . mein Kaufhaus, Berlin in der Ecke / Grabbeltisch Feeling, ich bleib auf der Strecke / Die Plattenmenschen sagen, daß sie uns jetzt lieben / Und möchten uns gern ins Schaufenster schieben / Rock 'n' Roll Ausverkauf grad jetzt in Berlin."

Ausverkauf? Beileibe nicht. Daß Nihilismus und apokalyptische Untergangsstimmung neben kurzweiligem Spaß und langweiligen Selbstbespiegelungen zu dem kommerziell favorisierten Strandgut gehören, welches diese widersprüchliche Stadt von unten absondert, kann nur die beunruhigen, die immer noch an die Rock-Revolution glauben. Während in den Kellern in Kreuzberg und Moabit wieder Akkorde geschruppt werden, als gelte es, den Tag des letzten Gerüchts einzuläuten, blühen draußen an den Mauern die Graffitti. Aus der Spraydose zischt es auf die Brandmauer nieder: Wenn ich auf der Revolution nicht tanzen kann, dann komm ich nicht.

Wenn die bunten, widersprüchlichen Scheiben von Ideal, Interzone, Morgenrot, PVC, dem 1. Futurologischen Kongreß, Scala 3, Bei Ami, UKW, Foyer des Arts, Spliff, oder wie die Gruppen alle heißen, bei euch auf dem Plattenteller dudeln, gebt Stoff. Rock hat auch was mit dem Bauch zu tun. Rock ist cool und körperlich. Und das ist gut so.

Anmerkungen

1) H. H. Muchow, Sexualreife und Sozialstruktur der Jugend, Ro-wohlt Taschenbuch Verlag, rde 94, 1959. Gelesen in: Fans, Gangs, Bands. Ein Lesebuch der Rockjahre, rororo 1981

2) Zitiert nach: Steve B. Peinemann, „Die Wut, die du im Bauch hast", rororo 1980

 

  • aus: Stadtfront Berlin  West Berlin, Hrg. Irene Lusk & Christiane Zieseke, Westberlin 1982, S. 62ff

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