bereits 800 Jugendliche an dem wilden Treiben und bis zu jenem legendären
Konzert im Oktober 1958, als »Bill Haley and his comets« ebenfalls im
Berliner Sportpalast »around the clock« rockten und ihre verzückten Fans
»außer Rand und Band« gerieten, ereigneten sich in West-Berlin etwa 40
»Halbstarkenkrawalle« mit jeweils 50 bis 1000 aktiven Teilnehmern.
Randale bei Rock-Veranstaltungen oder
Massenpöbeleien auf der Straße wie beispielsweise 1956 im Wedding oder auf
Rummelplätzen gab es nicht nur in westdeutschen Großstädten. Aus der
gesamten industrialisierten Welt, von Daytona/Florida über New York, London,
Oslo, Stockholm, Ost-Berlin bis Zoppot in Polen berichteten die
Nachrichtenagenturen von ähnlichen Tumulten. Die für damalige Geschmäcker
unerhört wilde Musik des Rock'n'Roll diente vielen Jugendlichen als Ausdruck
ihrer emotionalen Rebellion gegen die hohlen Autoritäten in Schule, Betrieb
und Familie, gegen den moralinsauren Mief der »Anstandsregeln«, gegen
repressive Erziehung, gegen die rasierklingengescheitelten Fac,on-Frisuren,
die niedlichen, sauberen Kleidchen und Zöpfchen, gegen verlogenes
Familienidyll, gegen den Arbeitsethos der Nachkriegsgesellschaft, gegen die
»Haste-was-biste-was«-Mentalität.
Mit dem für viele Erwachsene schockierenden
Zurschaustellen von Körperlichkeit im Rock-Rhythmus begehrten Jugendliche
nicht zuletzt gegen die allgegenwärtige Lustfeindlichkeit auf. Wie Marion
Brando im Kultfilm »The Wild One« mit Motorrad und Lederjacke gegen die
ungerechtfertigten Zwänge der kleinbürgerlichen Gesellschaft aufbegehren und
wie James Dean im Kino-Renner »Denn Sie wissen nicht was sie tun« sich
trotzig behaupten in einer verlogenen und ungerechten Welt: das waren die
Traum- und Leitbilder, die die weltweit operierende Musik-und Filmindustrie
unzufriedenen Jugendlichen anbot und in denen sich viele von ihnen
wiederfanden. Auch für viele Jugendliche, denen es nie in den Sinn gekommen
wäre, bei Konzerten oder auf der Straße zu randalieren und die brav ihrer
Arbeit nachgingen, bedeutete diese Musik, die Lederjacke, die Jeans und die
Haartolle ein Ventil für ihre Unzufriedenheit.
Diese Phänomene stürzten die Jugendverbände
in Ratlosigkeit. Viele Jugendpolitiker verstanden sie im Grunde nicht,
sondern beurteilten sie unter dem Gesichtspunkt einer drohenden
»Jugendverwahrlosung« und schoben den heißen Rhythmen des Rock'n
Roll eine »enthemmende und aufstachelnde« Wirkung zu. Zudem blieb es
im eisigen Klima des Kalten Krieges nicht aus, daß die Schuld - wie für
alles Böse in der Welt, so auch für die »Halbstarkenkrawalle« - bei
»kommunistischen Hetzern« gesucht wurde. So vermutete sogar der als seriös
geltende »Tagesspiegel« »SED-Beauftragte« als Drahtzieher von
Jugendkrawallen in West-Berlin.(9)
In der Halbstadt artikulierten sich zwei gegensätzliche Antworten auf die
Provokationen der »Halbstarken«. Konservative Politiker und vor allem die
Boulevardpresse riefen nach scharfen polizeilichen Maßnahmen, die das wilde
Treiben mit dem Polizeiknüppel beenden sollten. Law-and-Order-Politiker
forderten schon damals, eine Jugendpolizei zu schaffen, die aufmüpfige
Jugendliche überwachen und im Tatfall dingfest machen sollte. Mithin ist der
Ruf nach einer Jugendpolizei keine Erfindung der achtziger Jahre, als in
vielen Städten Jugendliche leer stehende Häuser
besetzten und für ihr Recht auf ein selbst
gestaltetes Leben demonstrierten und wiederum eine Jugendpolizei gefordert
wurde.
Demgegenüber traten die Jugendverbände und
die Jugendämter in West-Berlin für eine umfassendere sozialpädagogische
Betreuung von Jugendlichen ein. So nahmen die Senatsverwaltung für Jugend
und Sport und der Landesjugendring in einer gemeinsamen Erklärung »die
Berliner Jugend« in Schutz und betonten, daß die Halbstarken nur eine
Minderheit seien und nicht mit der Gesamtheit der Jugendlichen identifiziert
werden dürften. In diesem Dokument der Ratlosigkeit, das im übrigen
bedauerte, daß es keine Möglichkeiten gibt, solche Veranstaltungen zu
verbieten, heißt es: »Es wurde in Aussicht gestellt, Gruppen von
Jugendlichen, die als Krawallmacher bekannt oder verdächtig seien, bei
Erstattung des Eintrittsgeldes von der Teilnahme (an Musikveranstaltunagen,
R. G.) auszuschließen. (...) Die Senatsverwaltung für Jugend und Sport und
die Jugendorganisationen im Landesjugendring Berlin stellen fest, daß die
Berliner Jugend in der Vergangenheit bei vielen großen Veranstaltungen ihre
vorbildliche Haltung bewiesen hat. Sie bedauern sehr, daß einige Rowdys das
Ansehen der Jugend schädigen konnten. «(10)
Die West-Berliner Jugendämter richteten »Krawallkommissionen« ein, die
die Vorfälle untersuchen sollten. In den Jugendheimen durften nun am
Wochenende auch noch nach 22 Uhr Tanzveranstaltungen stattfinden und der
Senat stellte dem Landesjugendring finanzielle Mittel für Veranstaltungen
mit »nicht-organisierten« Jugendlichen zur Verfügung, damit auch sie ihren
»Erlebnishunger sinnvoll befriedigen« konnten.(11)
Und so wagte der Landesjugendring ein minutiös geplantes Experiment: eine
große Tanzveranstaltung für »nichtorganisierte« Jugendliche. Als
Veranstalter wollte er öffentlich freilich nicht in Erscheinung treten, um
die Zielgruppe nicht von vorneherein abzuschrecken. Solchermaßen hinter
guter Deckung tüftelte eine Vorbereitungsgruppe wochenlang an einem Programm
»das die Jugend anspricht«. Ihr Ziel: »In erster Linie soll darauf
geachtet werden, die Jugendlichen durch sportliche, d.h. artistische
Leistungen zu beeindrucken.« Skifflegroup, Tanz und Kabarett sollten für
Stimmung sorgen. Das Vorbereitungsgremium gab sich alle Mühe, es
unorganisierten Jugendlichen recht zu machen, die Rock'n'Roll dem Volkstanz
vorzogen, lieber ins Kino gingen als zu einem
Jugendverbands-Gruppenabend und lässigem Freizeitspaß in der Jugendgang an
der Ecke mehr abgewinnen konnten als einer Wochenendwanderfahrt unter
Jugendleiteraufsicht. Die eifrigen Jugendfunktionäre kritisierten gar das
Werbeplakat der engagierten Kapelle als »zu seriös«, achteten darauf, daß
die jugendlichen Besucher nicht »für einige Stunden auf ihren Plätzen
sitzen müssen«, sondern sich
»beim Tanz austoben«(12)
können, schließlich stand der
Tanzabend ja unter dem verheißungsvollen Motto »Für Erwachsene verboten«.
Sogar den Vorschlag, ein Sprecher des Landesjugendringes möge »einige
Worte an die Jugendlichen richten" dürfen, verfiel der Ungnade des
Vorbereitungsausschusses, denn »es war bereits festgelegt worden, daß der
Veranstalter anonym bleiben sollte. Im Laufe des Abends könnte der Ansager
vielleicht den Veranstalter erwähnen.«(13)
Alle Eventualitäten wurden einkalkuliert, eine Haftpflichtversicherung
abgeschlossen und entschieden, der Saal solle bei den Darbietungen
erleuchtet bleiben, um einer Randale vorzubeugen.
Allen Befürchtungen zum trotz verlief der gut
besuchte Tanzabend ohne Randale - aber statt der erwarteten Zielgruppe von
Jugendlichen aus dem »Halbstarkenmilieu« kamen fein gekleidete, brave
Jugendliche. Wie viele von ihnen tatsächlich keiner
Jugendorganisation angehörten und wie viele
organisierte Jugendliche darunter waren - es wurde schließlich auch in den
Verbänden geworben weil die Kartenverkaufszahlen im freien Vorverkauf
beängstigend niedrig blieben - ist nicht überliefert.
Soviel Hilflosigkeit wie in diesem verkrampften Bemühen, »unorganisierte«
Jugendliche anzusprechen und sie für einen Abend »von der Straße zu holen«
steckt auch in der Reflexion über diese Veranstaltung. Im Protokoll der
nächstfolgenden Vollversammlung des Landesjugendringes heißt es dazu:
»Von einigen Anwesenden wird als Kritik angebracht, es sei nicht der Kreis
angesprochen worden, der bei Krawallen aufgefallen ist. Hierzu wird
festgestellt, daß diese jungen Leute nicht von vornherein erkenntlich sind,
weil sie zu einem Ball in anderer Kleidung und Aufmachung erscheinen werden,
als zu Veranstaltungen im Sportpalast. (...) Grundsätzlich wird
übereinstimmend die Auffassung vertreten, daß der Versuch, nichtorganisierte
Jugendliche von Seiten des Landesjugendringes anzusprechen, geglückt ist.
Der >Blickpunkt< (14) Nr.
87/88 mit dem Artikel >10 Jahre Landesjugendring<, der den Jugendlichen
kostenlos angeboten worden war, war am Schluß der Veranstaltung restlos
ausgegeben.«(15)
Anmerkungen
9) Der Tagesspiegel,
21.7.1956
10) Gemeinsame Erklärung des Senators für Jugend und
Sport und des Landesjugendringes. In: Blickpunkt, Nr. 78/79,
November/Dezember 1958, S. 16
11) Der Tagesspiegel, 8.11.1958
12) Prot. LJR-GA, 18.8.1959, S.2
13) ebd.
14) die Zeitschrift des Landesjugendringes. Vgl.
Gröschel, Schmidt: Trümmerkids, S. 210-224
15) Prot. LJR-MV, 8.9.1959, S.2 |