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Archiv Rock und Revolte
Texte

 

Der »Halbstarken«-Schock und die Jugendverbände

von Roland Gröschel und Michael Schmidt

Besonders sinnfällig zeigten sich der Öffentlichkeit die Grenzen der Jugendarbeit durch die »Halbstarkenkrawalle«, die in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die Öffentlichkeit erschreckten und die Jugendverbände verunsicherten.8 Eine lange Liste schlagzeilenträchtiger »Großkrawalle« empörte die Bürgerseele. In Berlin begann die Randale am 8. April 1956 im Sportpalast, wo etwa 300 Jugendliche das Mobiliar zertrümmerten, zwei Wochen später beteiligten sich bei ähnlicher Gelegenheit

bereits 800 Jugendliche an dem wilden Treiben und bis zu jenem legendären Konzert im Oktober 1958, als »Bill Haley and his comets« ebenfalls im Berliner Sportpalast »around the clock« rockten und ihre verzückten Fans »außer Rand und Band« gerieten, ereigneten sich in West-Berlin etwa 40 »Halbstarkenkrawalle« mit jeweils 50 bis 1000 aktiven Teilnehmern.

Randale bei Rock-Veranstaltungen oder Massenpöbeleien auf der Straße wie beispielsweise 1956 im Wedding oder auf Rummelplätzen gab es nicht nur in westdeutschen Großstädten. Aus der gesamten industrialisierten Welt, von Daytona/Florida über New York, London, Oslo, Stockholm, Ost-Berlin bis Zoppot in Polen berichteten die Nachrichtenagenturen von ähnlichen Tumulten. Die für damalige Geschmäcker unerhört wilde Musik des Rock'n'Roll diente vielen Jugendlichen als Ausdruck ihrer emotionalen Rebellion gegen die hohlen Autoritäten in Schule, Betrieb und Familie, gegen den moralinsauren Mief der »Anstandsregeln«, gegen repressive Erziehung, gegen die rasierklingengescheitelten Fac,on-Frisuren, die niedlichen, sauberen Kleidchen und Zöpfchen, gegen verlogenes Familienidyll, gegen den Arbeitsethos der Nachkriegsgesellschaft, gegen die »Haste-was-biste-was«-Mentalität.

Mit dem für viele Erwachsene schockierenden Zurschaustellen von Körperlichkeit im Rock-Rhythmus begehrten Jugendliche nicht zuletzt gegen die allgegenwärtige Lustfeindlichkeit auf. Wie Marion Brando im Kultfilm »The Wild One« mit Motorrad und Lederjacke gegen die ungerechtfertigten Zwänge der kleinbürgerlichen Gesellschaft aufbegehren und wie James Dean im Kino-Renner »Denn Sie wissen nicht was sie tun« sich trotzig behaupten in einer verlogenen und ungerechten Welt: das waren die Traum- und Leitbilder, die die weltweit operierende Musik-und Filmindustrie unzufriedenen Jugendlichen anbot und in denen sich viele von ihnen wiederfanden. Auch für viele Jugendliche, denen es nie in den Sinn gekommen wäre, bei Konzerten oder auf der Straße zu randalieren und die brav ihrer Arbeit nachgingen, bedeutete diese Musik, die Lederjacke, die Jeans und die Haartolle ein Ventil für ihre Unzufriedenheit.

Diese Phänomene stürzten die Jugendverbände in Ratlosigkeit. Viele Jugendpolitiker verstanden sie im Grunde nicht, sondern beurteilten sie unter dem Gesichtspunkt einer drohenden »Jugendverwahrlosung« und schoben den heißen Rhythmen des Rock'n Roll eine »enthemmende und aufstachelnde« Wirkung zu. Zudem blieb es im eisigen Klima des Kalten Krieges nicht aus, daß die Schuld - wie für alles Böse in der Welt, so auch für die »Halbstarkenkrawalle« - bei »kommunistischen Hetzern« gesucht wurde. So vermutete sogar der als seriös geltende »Tagesspiegel« »SED-Beauftragte« als Drahtzieher von Jugendkrawallen in West-Berlin.(9)
In der Halbstadt artikulierten sich zwei gegensätzliche Antworten auf die Provokationen der »Halbstarken«. Konservative Politiker und vor allem die Boulevardpresse riefen nach scharfen polizeilichen Maßnahmen, die das wilde Treiben mit dem Polizeiknüppel beenden sollten. Law-and-Order-Politiker forderten schon damals, eine Jugendpolizei zu schaffen, die aufmüpfige Jugendliche überwachen und im Tatfall dingfest machen sollte. Mithin ist der Ruf nach einer Jugendpolizei keine Erfindung der achtziger Jahre, als in vielen Städten Jugendliche leer stehende Häuser besetzten und für ihr Recht auf ein selbst gestaltetes Leben demonstrierten und wiederum eine Jugendpolizei gefordert wurde.

Demgegenüber traten die Jugendverbände und die Jugendämter in West-Berlin für eine umfassendere sozialpädagogische Betreuung von Jugendlichen ein. So nahmen die Senatsverwaltung für Jugend und Sport und der Landesjugendring in einer gemeinsamen Erklärung »die Berliner Jugend« in Schutz und betonten, daß die Halbstarken nur eine Minderheit seien und nicht mit der Gesamtheit der Jugendlichen identifiziert werden dürften. In diesem Dokument der Ratlosigkeit, das im übrigen bedauerte, daß es keine Möglichkeiten gibt, solche Veranstaltungen zu verbieten, heißt es: »Es wurde in Aussicht gestellt, Gruppen von Jugendlichen, die als Krawallmacher bekannt oder verdächtig seien, bei Erstattung des Eintrittsgeldes von der Teilnahme (an Musikveranstaltunagen, R. G.) auszuschließen. (...) Die Senatsverwaltung für Jugend und Sport und die Jugendorganisationen im Landesjugendring Berlin stellen fest, daß die Berliner Jugend in der Vergangenheit bei vielen großen Veranstaltungen ihre vorbildliche Haltung bewiesen hat. Sie bedauern sehr, daß einige Rowdys das Ansehen der Jugend schädigen konnten. «(10)

Die West-Berliner Jugendämter richteten »Krawallkommissionen« ein, die die Vorfälle untersuchen sollten. In den Jugendheimen durften nun am Wochenende auch noch nach 22 Uhr Tanzveranstaltungen stattfinden und der Senat stellte dem Landesjugendring finanzielle Mittel für Veranstaltungen mit »nicht-organisierten« Jugendlichen zur Verfügung, damit auch sie ihren »Erlebnishunger sinnvoll befriedigen« konnten.(11) Und so wagte der Landesjugendring ein minutiös geplantes Experiment: eine große Tanzveranstaltung für »nichtorganisierte« Jugendliche. Als Veranstalter wollte er öffentlich freilich nicht in Erscheinung treten, um die Zielgruppe nicht von vorneherein abzuschrecken. Solchermaßen hinter guter Deckung tüftelte eine Vorbereitungsgruppe wochenlang an einem Programm »das die Jugend anspricht«. Ihr Ziel: »In erster Linie soll darauf geachtet werden, die Jugendlichen durch sportliche, d.h. artistische Leistungen zu beeindrucken.« Skifflegroup, Tanz und Kabarett sollten für Stimmung sorgen. Das Vorbereitungsgremium gab sich alle Mühe, es unorganisierten Jugendlichen recht zu machen, die Rock'n'Roll dem Volkstanz vorzogen, lieber ins Kino gingen als zu einem Jugendverbands-Gruppenabend und lässigem Freizeitspaß in der Jugendgang an der Ecke mehr abgewinnen konnten als einer Wochenendwanderfahrt unter Jugendleiteraufsicht. Die eifrigen Jugendfunktionäre kritisierten gar das Werbeplakat der engagierten Kapelle als »zu seriös«, achteten darauf, daß die jugendlichen Besucher nicht »für einige Stunden auf ihren Plätzen sitzen müssen«, sondern sich »beim Tanz austoben«(12) können, schließlich stand der Tanzabend ja unter dem verheißungsvollen Motto »Für Erwachsene verboten«. Sogar den Vorschlag, ein Sprecher des Landesjugendringes möge »einige Worte an die Jugendlichen richten" dürfen, verfiel der Ungnade des Vorbereitungsausschusses, denn »es war bereits festgelegt worden, daß der Veranstalter anonym bleiben sollte. Im Laufe des Abends könnte der Ansager vielleicht den Veranstalter erwähnen.«(13) Alle Eventualitäten wurden einkalkuliert, eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen und entschieden, der Saal solle bei den Darbietungen erleuchtet bleiben, um einer Randale vorzubeugen.

Allen Befürchtungen zum trotz verlief der gut besuchte Tanzabend ohne Randale - aber statt der erwarteten Zielgruppe von Jugendlichen aus dem »Halbstarkenmilieu« kamen fein gekleidete, brave Jugendliche. Wie viele von ihnen tatsächlich keiner Jugendorganisation angehörten und wie viele organisierte Jugendliche darunter waren - es wurde schließlich auch in den Verbänden geworben weil die Kartenverkaufszahlen im freien Vorverkauf beängstigend niedrig blieben - ist nicht überliefert.

Soviel Hilflosigkeit wie in diesem verkrampften Bemühen, »unorganisierte« Jugendliche anzusprechen und sie für einen Abend »von der Straße zu holen« steckt auch in der Reflexion über diese Veranstaltung. Im Protokoll der nächstfolgenden Vollversammlung des Landesjugendringes heißt es dazu: »Von einigen Anwesenden wird als Kritik angebracht, es sei nicht der Kreis angesprochen worden, der bei Krawallen aufgefallen ist. Hierzu wird festgestellt, daß diese jungen Leute nicht von vornherein erkenntlich sind, weil sie zu einem Ball in anderer Kleidung und Aufmachung erscheinen werden, als zu Veranstaltungen im Sportpalast. (...) Grundsätzlich wird übereinstimmend die Auffassung vertreten, daß der Versuch, nichtorganisierte Jugendliche von Seiten des Landesjugendringes anzusprechen, geglückt ist. Der >Blickpunkt< (14) Nr. 87/88 mit dem Artikel >10 Jahre Landesjugendring<, der den Jugendlichen kostenlos angeboten worden war, war am Schluß der Veranstaltung restlos ausgegeben.«(15)

Anmerkungen

9) Der Tagesspiegel, 21.7.1956
10) Gemeinsame Erklärung des Senators für Jugend und Sport und des Landesjugendringes. In: Blickpunkt, Nr. 78/79, November/Dezember 1958, S. 16
11) Der Tagesspiegel, 8.11.1958
12) Prot. LJR-GA, 18.8.1959, S.2
13) ebd.
14) die Zeitschrift des Landesjugendringes. Vgl. Gröschel, Schmidt: Trümmerkids, S. 210-224
15) Prot. LJR-MV, 8.9.1959, S.2

 

Quelle:  Der Text wurde entnommen aus "Gruppenleben und politischer Aufbruch. Zur Geschichte des Jugendverbandsarbeit und des Landesjugendrings Berlin zwischen den 50er und 70er Jahren" Hrg. Landesjugendring Berlin, Berlin 1993, S. 105 ff
 

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