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Archiv Rock und Revolte

Für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum Prisma
 

Sturm um die Brücke
Der Versuch einer Selbstverwaltung
von Peter Möller

Anlass für das Gewitter, das sich über der .Brücke", dem einzigen Jugendfreizeitheim für die bisher nahezu 4000 Jugendlichen im MV, zusammenbraute, war der Beschluß des Kreiskirchenrates von Reinickendorf, den Freizeitbetrieb zum 1. Oktober 1969 ersatzlos einzustellen. „Blickpunkt" hielt es für müßig, dem weitverbreiteten Ruf nach dem Schuldigen zu folgen; jedoch schien es uns für unsere Leser von Interesse, Gerüchte von Tatsachen zu trennen und den Versuch zu unternehmen, den Hintergrund der Entwicklung dieses Konfliktes aufzuhellen.

Wir haben deswegen fast alle in diese Krise verwickelten Personen um ihre Stellungnahme gebeten. Zur notwendigen Vorinformation mag dienen: 1968 wurden die Räume — e'n größerer, ein kleinerer, ein Büroraum, zwei Toiletten, eine kleine Küche, ein Abstellraum im letzten Stockwerk der Kegelbrücke über dem Kino vom Kreiskirchenrat als Träger für 65 000,— D-Mark für 5 Jahre von der Limberg KG gemietet. Die Räume sollten im Zusammenhang mit der Konzeption dieser Freizeiteinrichtung den Jugendlichen des MV die Möglichkeit bieten, untereinander „Brücken zu schlagen". Blickpunkt stieß zunächst auf Klaus Ruch, der die „Brücke" von ihrem Eröffnungstag, dem 8. 8. 68, bis Anfang Mai 69 geleitet hat.

Wir mußten um jede einzelne Mark kämpfen

Um eine Darstellung der Entwicklung gebeten, äußert er sich wie folgt: „Von Anfang an war abzusehen, daß die Schwierigkeiten sich häufen würden: Das Bedürfnis der Jugendlichen, die möglicherweise im Elternhaus, in der Schule und an der Arbeitsstelle aufgestauten Aggressionen hier in der .Brücke' abzufahren, war außergewöhnlich intensiv und von uns zwei Betreuern einfach nicht zu steuern. Die Besucherzahl schwankte ständig zwischen 60 und 110 Jugendlichen je Abend. Obwohl zusätzlich noch MV-fremde Gruppen auftauchten, die Macht demonstrieren wollten, kam es glücklicherweise nicht zu den von uns befürchteten Massenprügeleien. Im Dezember 1968 gründeten wir einen .Hausrat', der zur Hälfte aus Jugendlichen und zum anderen Teil aus Erwachsenen, die ratgebende Funktion haben sollten, bestand. Zur Jahreswende 68/69 war der erste Krisenhöhepunkt erreicht, so daß wir deswegen, aus Urlaubsgründen und wegen der personellen Unterbesetzung die Einrichtung für ungefähr vier Wochen schlossen. Diese Zeit sollte auch dazu dienen, die neue Konzeption zu schaffen, die den Bedürfnissen der Jugendlichen besser angepaßt sein sollte. Vertreter des Hausrates führten wiederholt Gespräche mit dem Kreisjugendpfarramt, aus denen hervorging, daß zwar einerseits der .offene Betrieb' notwendig, andererseits angesichts der personell und finanziell ständig dürftigen Lage aber nur der ,geschlossene Betrieb' möglich war; das bedeutete, daß die Eingangstüren abgeschlossen wurden, sobald das Programm, wie zum Beispiel Filme, Tanzkurse, Diskussionen, begonnen hatte.

Schließlich aber reichten nicht einmal dafür die finanziellen Voraussetzungen aus, die der Kreiskirchenrat zu schaffen hatte: wir mußten um jede einzelne DM kämpfen! So waren wir bald gezwungen, wieder umzuschwenken: wir kehrten zum ,halboffenen Betrieb' zurück, das heißt, daß im kleinen Raum ein geschlossenes Programm lief, während der größere Raum für jeden offen war.

Unsere außerordentlich angespannte Lage und die erwähnten Schwierigkeiten sind der Superintendentur und weiteren verantwortlichen Dienststellen wiederholt hinlänglich und eindringlich klargelegt worden. Bedauerlich war auch, daß die Empfehlungen des Hausrates kein Gehör fanden beim Kreisjugendpfarramt. Wir selbst hatten unsere Arbeit eigentlich nicht so sehr als betont kirchliche aufgefaßt. Die Zielvorstellung war einfach, den Jugendlichen einen Ort zu geben, an dem sie sich wohl fühlen konnten. Die zentrale Lage der ,Brücke' im Einkaufszentrum war gut, die Zahl und der Schnitt der Räume aber nicht ausreichend. Unsere Kontakte zum Polizeirevier 300, zum zuständigen Bewährungshelfer, zur Unihelp und zum Jugendrichter waren so gefestigt, daß wir einige Male Verständnis für das Verhalten der Jugendlichen gewinnen konnten.

Wir hatten aber den Eindruck, daß die .Brücke' zwar mit vielem guten Willen begonnen und aufgebaut war, daß aber diejenigen, die die letzten Entscheidungen zu treffen hatten, zu wenig Wissen und zu wenig Erfahrungen um die Bedürfnisse der Jugendlichen besaßen."

Die vorhandenen Räume sind unzureichend

Klaus Ruch hat sich am 5. 5. 69 aus dieser Arbeit zurückgezogen; seine Nachfolger, Margarete Praecker und Herbert Hermann, treten ein schwieriges Erbe an. Sie berichten: „Bei Beginn unserer Tätigkeit wurde uns bereits deutlich, daß die Arbeit mit der bisherigen Konzeption nicht erfolgreich sein konnte. Wir sollten einen kirchlichen Missionsauftrag erfüllen und unsere Tätigkeit begrenzen auf die Öffnungszeiten der ,Brücke'. Dadurch konnten die Probleme, die die Jugendlichen im Elternhaus, in der Schule oder auf der Lehrstelle hatten, nicht angemessen gelöst werden. Viele von ihnen wechseln häufig die Arbeitsstelle, sind konzentrationsgeschwächt, haben kaum erfolgreiche Beziehungen zu Mädchen und sind meistens nicht in der Lage, Auseinandersetzungen verbal zu führen: statt dessen regiert die Faust.

Diese Schwierigkeiten wurden ständig zahlreicher und nahmen an Intensität zu, weil immer mehr Jugendliche in die ,Brücke' kamen, aber auch häufig laufende Ermittlungen wegen Körperverletzungen anstanden. Selbstverständlich sind wiederholt bereits seit April 69 das Kreisjugendpfarramt, die Superintendentur und der Kreiskirchenrat schriftlich sowie mündlich aufmerksam gemacht worden.

Als im Juni 69 der im Treppenhaus zur Brücke angerichtete Schaden 3000,— DM betrug, war die Geduld der Limberg KG verständlicherweise erstmals erschöpft; wir konnten aber mit Herrn Limberg noch ein Stillhalteabkommen erreichen. Ebenfalls noch im Juni teilten wir unsere Sorgen einem Vertreter des Senators für Familie, Jugend und Sport mit; es folgten einige Gespräche mit Angehörigen des Bezirksamtes Reinickendorf und der zuständigen kirchlichen Dienststellen. Aus unserer eindringlichen Kritik folgerte unsere Forderung: drastische Personalvermehrung auf 8 Betreuer, die sich aus erfahrenen Sozialarbeitern, Psychologen und Sexualpädagogen zusammensetzen sollten. Nachdem wir sogar beim Stadt-Synodalverband, beim Landesjugendpfarrer und Landesjugendwart vorstellig geworden waren, wurde wenigstens Honorar für zwei Kinderbetreuer und für eine Sexual-Aufklärungs-reihe freigesetzt. Später hatte Herr Limberg einige Male bei der Superintendentur wegen der Beschädigungen im Treppenhaus angerufen; schließlich wurde der Filmvorführer des Kinos von einem Jugendlichen geschlagen — er wollte unter diesen Voraussetzungen nicht weiterarbeiten —, woraufhin Konsul Limberg einen Brief an Superintendenten Schladebach schrieb, in dem er die sofortige Garantie von Sauberkeit und Sicherheit im Gebäudeaufgang forderte, andernfalls, so war angedeutet, würde die Kirche regreßpflichtig gemacht werden. Die Folge davon war, daß der Jurist des Berliner Konsistoriums, Oberkonsistorialrat Bürgel, seiner Pflicht Genüge leistete, indem er den Brief der Limberg KG als Grundlage für seine Empfehlung nahm, die .Brücke' umgehend und ersatzlos zu schließen. Damit war das Urteil über eine Einrichtung gesprochen, die von Anfang an unter mangelhaften Voraussetzungen gearbeitet hatte: die vorhandenen Räume waren für die Aktivitäten der Jugendlichen völlig ungeeignet und an Zahl unzureichend: es fehlten Möglichkeiten, wirklich lauten Beat zu hören, es gab kein Gelände, auf dem man Mopeds, Motorräder und Autos reparieren und ausprobieren kann; es fehlen Räume, in denen überschüssige, körperliche Kräfte abreagiert werden können; ungestört, alleine oder zu zweit sich zurückzuziehen, ist ebenfalls unmöglich.

Sorgen haben uns dabei ständig noch einige Fremdgruppen von politisch agitierenden Studenten gemacht, die im Grunde auch hilflos in dieser Lage waren, untereinander uneinig in der Zielsetzung ihrer Arbeit und mehr an ihren eigenen Problemen als an den Bedürfnissen der Jugendlichen orientiert waren.

Mit der dienstlichen Anweisung von Superintendent Schladebach am 29.9. 69, das MV und die „Brücke" vorläufig nicht zu betreten, war mein Arbeitsauftrag (gemeint ist der von M. Praecker. Der Verfasser) beendet!" —

Flugblatt-Forderungen

Dann wurde es „heiß" um die „Brücke": die MVZ (Märkische Viertel Zeitung) druckte ein Sonderblatt, auf dem es unter der Überschrift „Die Brücke wird abgebrochen" u. a. heißt: „Limberg will die „Brücke" opfern, um den Kinobesitzer an seinen Vertrag binden zu können. Die Kirche als der Träger der „Brücke" hat Angst, sich mit Konsul Limberg anzulegen. Sie befürchtet nicht ganz zu Unrecht, einen Teil der 230000,— DM für nicht abgenutzte Einrichtungen und im voraus bezahlte Miete tragen zu müssen." . . .

Die Forderungen der Jugendlichen:

„1. Die ,Brücke' bleibt offen, bis eine geeignete Ersatzräumlichkeit geschaffen ist.

2. Diese (eine Baracke) ist umgehend zu errichten.

3. Die Jugendlichen werden an Planung und Einrichtung eines neuen Jugendheimes verantwortlich mitbeteiligt."

Ferner soll es am 1.10.69 um 17.30 Uhr ein Sit-in vor der „Brücke" geben.

Das Sit-in fand nicht statt; sechs Mannschaftswagen der Polizei waren aufgefahren, die Beamten brauchten aber nicht einzuschreiten, weil die Jugendlichen im Rahmen der Vorführung eines amerikanischen Straßentheaters im Einkaufszentrum ihre Forderungen verlasen und ihre Transparente zeigten. Die anschließende Diskussion in den Räumen der „Brücke" ergab, daß die „Brücke" zunächst für 4 Wochen in die Verantwortung des Bezirksamtes Reinickendorf genommen wird mit dem Ziel, den Jugendlichen Zeit und Gelegenheit zu geben, eine Selbstverwaltung aufzubauen unter der Beratung von Sozialarbeitern, die die jungen Leute akzeptieren können oder nicht.

Schlägereien waren das i-Tüpfelchen

Unmittelbar um diese aktuelle Konfliktsituation ranken sich die kurzen Stellungnahmen der folgenden Personen, die vor dem Schließungstermin von uns befragt wurden:

Pfarrer H. H. Damm ist als Ge-meindejugendpfarrrer Mitglied des Hausrates der „Brücke" gewesen. „Ich weiß alles nur aus zweiter Hand. Verantwortung habe ich sowieso nicht dafür gehabt; der seinerzeit eingesetzte Hausrat hatte zwar beratende Funktion, war aber nicht recht anerkannt. Wir bedauern die Schließung, hatten aber als Gemeinde keine Verantwortung. Pfarrer Schönberg ist vor 4 Monaten als Kurator der .Brücke' eingesetzt worden. Fragen Sie den." Was wir sofort taten. Pfarrer Schönberg: „Es bleibt noch bei der Schließung; die eigentlichen Gründe, die zu ihr führten, lassen sich bei dieser Konflikt-Eskalation nicht ganz aufdecken. Der Vermieter ist böse, daß seine Räume durch ,Vandalismus' — so Herr Limberg in einer Besprechung — der Jugendlichen in Mitleidenschaft gezogen wurden: der Schaden im Treppenhaus betrug im Juli 68 ca. 2000,— DM. Später kamen die Klagen der ,Brücke'-Mitarbeiter wegen Arbeitsüberlastung; dem folgte ein Antrag auf Personal-Erweiterung, dem sich das Konsistorium und der Stadtsynodalverband noch nicht anschließen konnten. Das berühmte i-Tüpfelchen waren aber offensichtlich die Schlägereien, die Jugendliche der ,Brücke' mit dem Filmvorführer des Kinos und mit einem älteren Passanten im Einkaufszentrum hatten. Der Inhaber des Kinos hat angedeutet, daß Mietschulden mit von der Kirche getragen werden könnten. Unter diesen Voraussetzungen waren wir nicht mehr bereit, Verantwortung weiter zu tragen."

Zwei Alternativen

Im Anschluß daran haben wir mit Herrn Pattberg gesprochen, der das Anwaltsbüro leitet, das die Firma Limberg KG betreut. Er betont ebenfalls, daß die „Brücke" von Anfang an Sorgen bereitet habe: „Wir haben ständig Sitzungen deswegen gehabt, weil in den Treppenaufgängen unwahrscheinlich gewütet worden war: insgesamt dreimal mußten wir wegen dieser Schäden den Abnahme-Termin des Kinos verschieben. Offensichtlich aber zogen die offenen und unübersichtlichen Aufgänge auch Individuen an, die nicht immer zu den ,Brücke'-Besuchern gezählt werden konnten. Bei dem letzten Gespräch mit den Mitarbeitern der .Brücke' wurde glaubwürdig versichert, daß jetzt die Verhältnisse sich bessern würden; das hielt auch tatsächlich eine Weile vor, bis es jetzt zu den beiden schweren Schlägereien kam. Diese letztlich veranlaßten uns, dem Träger zwei Alternativen vorzuschlagen, entweder ihr garantiert für die Überwachung von Sauberkeit und Sicherheit oder ihr schließt die .Brücke'!"

Aus dem zentralen Blickfeld rücken

Ebenfalls noch am Montag vor der beabsichtigten Schließung bezieht Ilse Reichel, zuständige Stadträtin für Jugend und Sport, energisch Stellung gegen die ersatzlose Schließung der „Brücke": „Ich bin entschieden gegen die Schließung, hielte es aber für besser, wenn man für die Jugendlichen eine Einrichtung schaffen könnte, die ihren Bedürfnissen mehr angepaßt ist und nicht so zentral im öffentlichen Blickfeld liegt wie die .Brücke'. Unter diesen Voraussetzungen könnte in der .Brücke' später Kinderarbeit für den Tages-Bereich gemacht werden."

Kino-Verwaltung stellt richtig

In der Zwischenzeit wehrt sich auch das „Kino im Märkischen Viertel" gegen die Anschuldigung, für die beabsichtigte Schließung der „Brücke" verantwortlich zu sein; Herr Öhlke, ein Mitarbeiter aus der Verwaltung des Kinos betont dazu ausdrücklich: „Zu keiner Zeit war daran gedacht worden, das Kino wegen der Schwierigkeiten mit den ,Brücke'-Besuchern zu schließen und die Kirche in Re-greß zu nehmen. Wir werden in einem Flugblatt an die Öffentlichkeit des MV den Versuch einer Richtigstellung unternehmen." In dieser Gegendarstellung, die in hoher Auflage im MV verteilt wurde, heißt es auszugsweise: „Dem Propaganda-Vorwurf kapitalistischen Ge-winnstrebens können wir unsere soziale Eintrittspreisgestaltung entgegenstellen: Ermäßigung für Studenten und Schüler, sowie — und dies ist in keinem anderen Kino üblich — für Besucher, die mindestens 65 Jahre alt sind. Wir gewähren diese Vergünstigungen, obwohl unser Gewerbezweig durch Vergnügungssteuer und Filmabgabe zusätzlich belastet ist! Wir haben mit unserem Protest gegen unhaltbare Zustände in der ,Brücke', an denen schließlich auch deren Mitarbeiter scheiterten, eine Aktivität ausgelöst, die hoffentlich zu guten Ergebnissen führt. Unter der Aufsicht des Bezirksamtes und der Verantwortung einer Selbstverwaltung werden sicherlich unnötige Störungen des Kino-Betriebes möglichst vermieden werden."

Verantwortung beim Bezirksamt

Zu dieser Art der Eigenorganisation sagt Heinz Pirch, Bezirksjugendpfleger: „Wir werden für die zunächst vorgesehenen vier Wochen nicht Träger im üblichen Sinne werden; die Kosten werden weiterhin von der Kirche getragen, beim Bezirksamt wird aber die Verantwortung liegen. Darüber hinaus sind wir der Auffassung, daß die Jugendlichen eine Selbstverwaltung installieren sollten, die unter der Beratung von Sozialarbeitern, die die Jugendlichen akzeptieren, eigentlich erfolgreich sein könnte." Auf jeden Fall, so betont er, werde die „Brücke" erhalten bleiben. Diese Tatsache wird auch von dem Leiter des unmittelbar benachbarten und zuständigen Polizeirevieres 300, Hauptkommissar H. Hinze, unterstrichen: „Wir begrüßen, daß die .Brücke' offenbleibt, weil die Jugendlichen dort vergleichsweise unbeobachtet unter sich sein können. Außerdem liegt das Hausrecht bei der Eigenverwaltung, die jetzt lernen muß, mit allen Problemen selber fertig zu werden."

Kollektiv ohne Konzeption

Wie aber sehen die Betroffenen, die Jugendlichen der „Brücke", ihre eigene Lage? In dem kleinen Büroraum der Freizeiteinrichtung, an dessen Tür ständig eine satte Phonzahl heißen Beats hämmert, geht es in den derzeitigen Diskussionen noch hart und widersprüchlich zu; immerhin aber ist der Prozeß der Meinungsbildung bei einigen von ihnen schon soweit vorangeschritten, daß zwei ihrer Vertreter, Rudi Reisberg und Klaus Schultz über ihre Situation folgendes sagen:

„Im Juli 1969 wurden die ersten Gerüchte über eine Schließung der Räume laut. Genauere Informationen darüber aber erhielten wir nicht einmal vom Mitarbeiterteam, das ja für uns da war. Eine Woche vor der festgesetzten Schließung zogen wir mit ungefähr 25 Leuten in die Redaktionssitzung der MVZ, mit dem Ziel, Öffentlichkeit herzustellen. Ein umfangreiches Flugblatt wurde verfaßt, viele Briefe an die Fraktionen der Parteien und an weitere zuständige Stellen geschrieben. In den zahlreichen folgenden Gesprächen mit den Verantwortlichen von Kirche und Bezirksamt hatten wir zunächst oft das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Bis dann endlich am 30.9. andeutungsweise und in buchstäblich letzter Sekunde, nämlich am 1.10.69 endgültig beschlossen wurde, daß die ,Brücke' unter Verantwortung des Bezirksamtes erhalten bleibe. Es wurde vorgeschlagen, ein Kollektiv aus 5 Jugendlichen zu wählen, das zunächst die ,Brücke' nach außen vertreten sollte. Diese Wahl fand statt, obwohl uns klar war, daß die Jugendlichen sich mehr von dem Aussehen und ähnlichen Maßstäben als von der Befähigung der Vorgeschlagenen bei ihrer Entscheidung leiten lassen würden. Weitere Aufgabe dieses Kollektives müssen noch in inhaltlichen Diskussionen erarbeitet werden. Diese 5 Jugendlichen sollen sich aber nicht als ein geschlossener, Entscheidungen treffender Klub auffassen: jeder kann an den Sitzungen teilnehmen.

Unsere Sorgen und augenblicklichen Schwierigkeiten liegen auf drei Sektoren:

1. Wir möchten einfach nicht, daß unsere Bedürfnisse jetzt zu politischen Aktionen mißbraucht werden, gleich von welcher Seite; zu viele Fremdgruppen sind ständig hier und mischen sich in unsere Angelegenheiten ein.

2. Die Räumlichkeiten der ,Brücke' reichen weder für die Zahl, mit der wir sie besuchen noch für unsere Aktivitäten aus. Deswegen werden unsere Forderungen natürlich weitergehen. Mit provisorischen Lösungen, wie zum Beispiel Baracken, könnten wir auf die Dauer nicht einverstanden sein. Wir denken daran, das Kino in ein Jugendzentrum umzuwandeln.

3. Unsere Abhängigkeit nach innen ist größer als die nach außen. Wir meinen damit, daß es schwierig ist, die Masse der indifferenten Jugendlichen für ihre eigenen Probleme zu interessieren; sie sind offensichtlich gewöhnt, daß ständig jemand anordnet, was sie zu tun oder zu lassen hätten. Wir sind einfach noch unsicher, ob sie mit uns die Verantwortung für die Organisation der ,Brücke' in eigener Regie tragen wollen."

Anerkennung oder Mißtrauen, das ist die Frage

Wer werden nun die Berater sein, die den Jugendlichen helfen sollen, ihre Ziele in angemessener Weise in die Wirklichkeit umzusetzen? Einen der Sozialarbeiter erwischten wir noch gerade nach einer Besprechung; seine Auskunft kennzeichnet deutlich die noch wenig gefestigte, augenblickliche Lage der „Brücke": „Wir werden insgesamt zunächst 6 Berater sein, die sich eindeutig zum Prinzip der Selbstverwaltung durch die Jugendlichen bekennen. Das bedeutet, daß wir die Jugendlichen mitverantwortlich an allen Entscheidungsprozessen beteiligen müssen. Unsicher war zunächst noch die Frage der Bezahlung der Sozialarbeiter; jetzt hat sich aber der ,Verein zur Förderung politischkultureller Jugendklubs' bereit erklärt, unsere Gehälter zu übernehmen, aus denen wir regelmäßig einen bestimmten Betrag in eine Gemeinschaftskasse abführen werden, damit die Jugendlichen auch über notwendige finanzielle Mittel verfügen können, wenn sie ihr Programm durchsetzen wollen. Unser Problem ist zur Zeit folgendes: werden die Jugendlichen uns als Berater anerkennen, oder werden sie uns gegenüber ein ähnliches Mißtrauen zeigen wie gegenüber den bisherigen Mitarbeitern der ,Brücke'?"

Schlusskommentar

Wir haben bewußt zunächst kommentarlos Meinung an Meinung gereiht, damit sich der nicht ausreichend informierte Leser sein Urteil über den Konflikt um die „Brücke" und die Lage der Jugendlichen im MV selber bilden kann. Jedoch meine ich, ein Anrecht darauf zu haben, die Leser meine Stellungnahme wissen zu lassen:

Seit der Eröffnung der „Brücke" im August 1968 verfolgen wir aufmerksam die Entwicklung dieser auf längere Sicht einzigen Jugendfreizeiteinrichtung im MV; an ihr ist ein gutes Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit abzulesen, die für die Bürger des MV noch an Bedeutung zunehmen wird.

Wir glauben, daß die Arbeit in der „Brücke" scheitern mußte, weil

1. die Räumlichkeiten an Zahl, Größe und baulich-technischer Konzeption den Bedürfnissen der Jugendlichen nicht annähernd angemessen sind;

2. die im Brennpunkt öffentlicher Beobachtungsmöglichkeit gelegene „Brücke" dadurch verhinderte, daß Konflikte in sachlicher Ruhe aufgegriffen und verarbeitet wurden, bevor sie in ihrer Bedeutung hochgespielt waren;

3. die personelle Besetzung weder von ihrer Zahl noch von ihrer fachlichen Qualifikation (eine Stellenbesetzung scheiterte beispielsweise an dem niedrigen Gehaltsangebot des Trägers) ausreichend den allen Verantwortlichen hinlänglich bekannten Schwierigkeiten im MV angepaßt war;

4. der kirchliche Träger sich nicht von seinem Missionsauftrag zu trennen vermochte und so die Mitarbeiter der „Brücke" in zusätzliche Konflikte stürzte. Wir haben nach unserer bisherigen Kenntnis und Erfahrung die Überzeugung gewonnen, daß bei der Zuspitzung des Konfliktes die Rollenaufteilung an den Hausgenossen „Kino" und den Hausbesitzer, die Limberg KG, keine Ursache war, sondern auslösenden Charakter hatte. Was die Beteiligung der genannten Personenkreise nicht vertuscht, im Gegenteil — eher müssen wir uns beispielsweise eindeutig von der Auffassung der Limberg KG distanzieren, daß „im Zweifelsfalle die Schließung der .Brücke' der Schließung des Kinos vorgezogen werde". Wir sehen zwar, daß die Limberg KG aus Rentabilitätsgründen so und nicht anders argumentieren kann: in unserer Überzeugung aber rangiert das Recht der Jugend, soziale Verhaltensweisen zu erlernen, vor der Rentabilität eines Kinos. Und dieses Recht nimmt man ihr, wenn die „Brük-ke" ersatzlos geschlossen wird!

Der weitere Hintergrund der „Brücke"-Entwicklung gewinnt nahezu zynischen Beigeschmack, wenn man erfährt, daß die Räumlichkeiten, die für die Jugendlichen des MV Mitte der 70er Jahre von der Planung vorgesehen waren, vor wenigen Wochen vom Berliner Senator für Finanzen zusammengestrichen wurden Gegen den Protest der bezirklichen Jugendpflege, gegen die deutlich mahnenden und warnenden Stimmen derjenigen, die die Situation des MV aus eigener Arbeit in und an ihm kennen: Sozialarbeiter, Fürsorger, Psychologen, Soziologen, Pädagogen und Kriminologen.

Worauf käme es für die „Brücke" und die Jugendlichen des MV an? Das aktuelle Geschehen scheint darauf hinzudeuten, daß sich zwei gegenseitig polarisierende Kräftefelder bilden, vom Verhalten der in ihnen sich bewegenden Personen wird Erfolg und Mißerfolg dieses Versuches zur Selbstverwaltung abhängen: Auf der einen Seite der Senat von Berlin mit der Verwaltung Familie, Jugend und Sport und der nachgeordneten Dienstbehörde beim Bezirksamt Reinik-kendorf. Sie werden zeigen müssen, daß sie willens und in der Lage sind, die umfassende Problemstellung der heranwachsenden Jugend — hier am Beispiel des Märkischen Viertels — zu erfassen, zu bearbeiten und vernünftige Konsequenzen zu ziehen; dabei werden Worte nicht gezählt werden. Ferner werden die Behörden zeigen müssen, daß sie die heranwachsende Jugend und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen gewillt sind: die Jugendlichen müssen uneingeschränkt und verantwortlich an Entscheidungsprozessen beteiligt werden, von deren Ergebnissen sie betroffen sind!

Unsere Aufforderung an die Verantwortlichen: „Plant gemeinsam mit Jugendlichen, Architekten, Psychologen, Pädagogen und Soziologen ein Jugendzentrum, in dem Jugendliche sich durch Erfahrungen verwirklichen können (Bedürfnisse zu befriedigen, ohne andere zu verletzen, ist wahrscheinlich der zentrale Lernprozeß aller Individuen!).

Andererseits das noch unstrukturierte Kräftefeld der Jugendlichen; sie werden beweisen müssen, daß sie nicht nur Forderungen an mißtrauisch abgelehnte Autoritäten stellen, sondern auch Anforderungen an sich selbst hinsichtlich der Eigenorganisation erfüllen können; sie werden zeigen müssen, daß es ihnen nicht so sehr auf die Demonstration individueller Machtpositionen als vielmehr auf die Durchsetzung gemeinsamer Interessen ankommt. An sie richte ich die Aufforderung: Hört auf, euch ständig zu schlagen! Ihr habt genug Prügel bezogen! Jede tätliche Auseinandersetzung liefert euren Gegnern neue Argumente und bringt euch wieder einen Schritt weiter weg vom Erfolg.

Fordert die Beteiligung an der Planung eines Jugendzentrums und laßt euch nicht mit provisorischen Lösungen abspeisen.

Laßt euch und eure Ziele aber auch nicht mißbrauchen, denn ihr werdet die einzigen sein, die die Konsequenzen des Mißerfolges zu tragen haben werden!

Quelle: Blickpunkt Nr. 183 von November 1969,  S.33ff

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